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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Hesse, Otto Ernst: Psychoanalyse und Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0337
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BEMERKUNGEN. 333

Uns dämmern bloß einige Wahrheiten . ..« Wie Stekel, so gesteht auch Rank dem
Künstler eine »gewisse Aktivität« zu; womit natürlich nichts erklärt ist. Dasselbe
gilt, wenn Rank zusammenfassend sagt: »Der Künstler kann sich also von den
peinlichen Empfindungen befreien, wenn sie ihn bedrängen, zum Unterschiede
vom Neurotiker, der es nicht kann, aber will, und vom Träumer, der es geschehen
läßt. Den Künstler unterscheidet also nur ein eigenartig abgestimmtes Verhältnis
der psychischen Kräfte gegeneinander, eine Art Willenskraft, vom Träumer und vom
Neurotiker.« Daß solche Begriffe wie »gewisse Aktivität« und »eine Art Willens-
kraft« Ausflüchte sind, ist augenscheinlich. Sie zeigen deutlich, wo die Grenze liegt,
bis zu der uns die psychoanalytische Kunsttheorie etwas zu sagen hat, und hinter
der ein anderer Bezirk beginnt, der von der Psychoanalyse zwar übersehen wird,
der aber ebenso wie der biogenetische seine eigenen Gesetze hat: der Bezirk des
Teleologischen.

Das Dasein eines Künstlers spielt sich in einer Sphäre ab, die — mag sie noch
so sehr als prima causa den Trieb haben — doch im Laufe der kulturellen Ent-
wicklung eine Eigengesetzlichkeit erhalten hat. Schon das Gesetz von der Heterogonie
der Zwecke erklärt, daß sich ohne ursprüngliche teleologische Einstellung ein
Resultat ergeben kann, auf das nicht gezielt war. Rank scheint gerade dem Fehler
verfallen zu sein, gegen den er selbst kämpft: er berücksichtigt nicht, daß in der
Erklärung der psychischen Vorgänge, die wir künstlerisches Schaffen nennen, wie
in aller psychologischen Erklärung eine Entwicklung zu größerer Bewußtwerdung
vorliegt, die in Betracht gezogen werden muß. Der Künstler hat gelernt, sich selbst
zu beobachten, er kennt die Beobachtungen anderer, und seine Selbstanalyse läßt
ihn seine Aufgabe und seine Arbeit von einer erhöhten Warte aus sehen. Ein
moderner Dichter schafft eben nicht mehr nur, um seine überschüssigen Energien
zu sublimieren, wenn er auch, wie das Beispiel Flaubert beweist, eine Ökonomie
und Technik seiner Kräfte sich ausbildet; er schafft auch aus einer ethisch-sozialen
Einstellung heraus. Irgendwie äußert sich diese Einstellung seit Lessing bei jedem
Künstler. Er fühlt sich als Mitglied einer Gemeinschaft, je nach Ausmaß seines
Lebensbewußtseins als Mitglied seiner Gemeinde, seiner Klasse, seiner Rasse, seiner
Nation oder der Humanitas, fühlt die Atmosphäre der objektiver Geist gewordenen
Energie des Lebens und pflegt seine Verantwortung diesem Objektiven gegenüber,
dieser Welt der Werte gegenüber, die, früher gewiß einmal auch nur Sublimierung
subjektiver Vitalität (andere Vitalität als die von Individuen gibt es nicht), als
Historie und Menschheitsidee ein nun eigenes Gesetz lebt. Er betrachtet sich als
Mittel zu diesem überpersönlichen Zweck, getreu jenem Worte Flauberts: *L'homme
n'est rien, l'oeuvre est touU, und fühlt die subjektive Befreiung, die ihm das
Werk gewährt, als etwas Untergeordnetes. Er weiß, daß das Wort für seine Leser
Ersatz des Lebens ist; er weiß aber auch, daß er mit seinem Werke eine Wirkungs-
ursache setzt, die nicht wieder auszulöschen ist, eine prima causa, die in die Jahr-
hunderte, ja Jahrtausende hinein fortwirkt und fortzeugt, menschlich-ewige Tat, aus
der sich Segen, Fluch, Kampf, Mord, Freude, Friede — aus der sich Chaos oder
Kosmos der Welt gebären kann. Diese Besinnung hat den Aktivismus auf die
Beine gebracht. Er ist nichts anderes als die Mahnung: durch Wortwerke zu nichts
Unmenschlichem in der Welt den Anstoß zu geben. Diese Aktivisten spüren in
sich, was Christian Morgenstern einmal so formuliert hat: »Wenn ein Schriftsteller
sich jederzeit der Macht bewußt wäre, die in seine Hand gegeben ist, würde ein
ungeheures Verantwortlichkeitsgefühl ihn eher lähmen als beflügeln. Auch das
Bescheidenste, was er veröffentlicht, ist Same, den er streut, und der in anderen
Seelen aufgeht, je nach seiner Art.«
 
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