Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

DOI Artikel:
Hesse, Otto Ernst: Psychoanalyse und Kunstphilosophie
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0340
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
336 BEMERKUNGEN.

die den Haß derer beschwört, die dem Dichter durchaus nur die dynamisierende
Funktion zuerkennen wollen. Etwa den Haß des Aktivisten Hiller, der über Shake-
speares Objektivität schrieb: »Unser großer Unmöglicher, Ungeist (mit Geistein*
sprengsein), theaterzaubernder Quietist, Prototyp des Tendenzlosen: Shakespeare.
Er beschrieb mit michelangelesker Wucht, das ist wahr, aber... er beschrieb. Ein
Ungeheuer an Kraft, ein gewaltiger Schöpfersmann, hieb er die Welt hin, schuf sie
noch einmal — aber schuf sie nicht neu. Tolstoi hatte recht, ihn unsittlich zu
nennen. Denn Wiederholen ist unnütz, kindisch, im titanischen Fall ruchlos; es
kommt auf Ändern an.« Abgesehen davon, daß Hiller Shakespeare wohl zu wenig
kennt, da er nicht zu wissen scheint, daß dieser »Quietist« in »theaterzaubernden
Stücken« wie »Maß für Maß« und anderen recht sehr auf eine Änderung der Welt
hinaus ist (wenn auch nicht mit suggestionsloser Tendenz), so ist es interessant,
diese Meinung von 1918 — Meinung einer ganzen Generation! — noch einer anderen
Stelle aus Fridells »Ecce poeta« gegenüberzustellen, um die polaren Einstellungen
zweier, nur durch wenige Jahre getrennten Generationen herauszuarbeiten. Es heißt
da: »Der äußerste Gegensatz der Genialität ist die Subjektivität. Je subjektiver ein
Mensch in die Welt blickt, desto weniger kann er Genie, das heißt Weltauge sein.
Je unpersönlicher er ist, je mehr er sich in allem und jedem zu objektivieren vermag,
je mehr er allen Dingen und Ereignissen gegenüber nichts zu sein strebt als photo-
graphische Platte, desto genialer ist er, desto mehr ist er Künstler.« In aller Kraß-
heit stehen sich in den beiden Zitaten die Extreme gegenüber, die Extreme von
Idealismus und Realismus, von Expressionismus und Impressionismus, von Aktivis-
mus und Objektivismus oder, wie wir allgemeiner, um alle diese Polaritäten in eine
formal weit genug gefaßte Antithese zu bringen, sagten: Die Extreme der dynami-
sierenden und der statifizierenden Funktion der Kunst.

Probleme zu Ende denken, heißt immer wieder, Antinomien feststellen und von
ihnen, vor denen die Begriffe von »richtig« und »falsch« sinnlos werden, halt zu
machen. Nur Flachköpfigkeit glaubt, Probleme »lösen« zu können. Dieses Problem
der Kulturfunktion der Kunst, das sich bis zum Entweder-oder zuspitzen kann:
Kunst oder Kultur? ist viel zu kompliziert, als daß man mehr erreichen könnte, als
es zu umschreiben. Das Genie wird immer wissen, wo seine Kraft liegt. Es wird
diese Frage: Kunst oder Kultur? zu beantworten wissen; denn in ihm fallen beide
zusammen, fällt der vitale Zwang mit dem teleologischen Wirkungswillen zusammen.
Subjektive und objektive Kulturfunktion sind in seinem Schaffen eine Einheit; und
deshalb vermag es auch die anderen zu erlösen.
 
Annotationen