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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Adama van Scheltema, Frederik: Beiträge zur Lehre vom Ornament
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0447
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BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 443

sehen Leben doch in der Hauptsache übersichtlich bleiben und gerade
dadurch wirken. Höchst bezeichnend ist hier nun wieder die Band-
formung, der wir also zum dritten Male im nordischen Altertum be-
gegnen. Statt daß die Körper wie in der ersten Phase durch Quer-
schnitte zerlegt werden, ziehen sie sich nun bandförmig — Schlangen-
ornament! — in die Länge und werden auch gern der Länge nach
gespalten, was dann in der Folge zu den wildesten Verwicklungen
und Verschlingungen führen kann. Am Schluß der ersten Phase kann
von einer Form, einer Linie eigentlich nicht mehr gesprochen werden;
hier, in der Blüteperiode der germanischen Ornamentik, ist alles darauf
gerichtet, neue Wesen zu schaffen, die ihr wildes Temperament, zügel-
lose Kraftentfaltung und rastloses Streben suggerieren, wobei die ge-
krümmten Glieder, die vorspringenden Köpfe mit den großen Augen
nur die überzeugende Illustration sind. Hier bestimmte Tiere zu ver-
muten, ist sinnlos. Sicherlich sind gerade keine bestimmten Tier-
gestalten gemeint, und ich möchte mich noch schärfer, wenn auch
vielleicht etwas paradox ausdrücken: hier ist trotz diesen Köpfen und
Füßen überhaupt nicht an Tiere gedacht. Hier ist nur an den über-
zeugenden Ausdruck überschwenglicher Kraft, dramatischen Lebens,
wilden Zusammenprallens abstrakter Formen gedacht, wobei diese
Füße und Köpfe nur untergeordnete Akzente darstellen und beson-
ders dieser dämonische Kopf mit dem betonten Auge, als Sitz der
Individualität und des Willens, das »Willkürliche«, Eigenmächtige, be-
wußt so Gewollte, zu erkennen gab. Vielleicht dürfen wir sagen, daß
die Differenzierung und Individualisierung der abstrakten Form, die
vom Anfang an die Entwicklung der nordischen Kunst bestimmen,
hier, in ihrer letzten Blüteperiode, einen solchen Grad erreicht hat, daß
man solche, sei es auch höchst phantastische, organische Lebensformen
nicht mehr vermeiden konnte (Abbildung 10).

Die Form der dritten Entwicklungsperiode des nordischen Alter-
tums ist animalisch, wie die der zweiten vegetabilisch, die der
ersten kristallinisch ist. Ich habe den gebräuchlichen Ausdruck
»Tierornamentik« beibehalten, weil es unmöglich ist, für diese nicht
mehr mathematisch benennbaren Formen eine der Strich-, Kreis- oder
Spiralornamentik entsprechende Bezeichnung zu finden. Im Grunde
genommen aber handelt es sich hier ebensowenig um ein »Tiers-
Ornament, wie in der Stein- und Bronzezeit um ein Kristall- beziehungs-
weise ein Pflanzenornament, und es kann nur zu einer Begriffsverwir-
rung führen, wenn Sophus Müller einen Gegensatz zwischen dieser
»Tierornamentik« und der »Linearornamentik« der — zusammengefaß-
ten — Stein- und Bronzealter konstruiert oder sogar an eine gesetz-
mäßige, im Norden erst durch das einsetzende Mittelalter verwirk-
 
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