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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0473
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BESPRECHUNGEN. 45g

ab. — Die Grenze Kellers wird hier mittelbar deutlich. Meyers Bemerkung weist
auf den Gegensatz der Anordnung seiner und der Kellerschen Gedichtsammlung
hin (ich hätte gewünscht, daß Brecht auf diesen Kontrast mit einigen Worten ein-
gegangen wäre). Auch Keller hat geordnet. Bei ihm bleibt eine Zusammenstellung
nach Stimmungsmomenten (wobei besonders im »Buch der Natur« auch manche
feinere Beziehung hergestellt ist), was bei Meyer ein zweites unsichtbares Kunst-
werk wird, das in und zwischen den einzelnen Gedichten sein Leben führt und das
uns der Dichter »wortlos in die Hände legt« (209).

Über der Fülle der Ähnlichkeiten, Parallelen (Handlungs- und Situationsparallelen
für den Verstand, Stimmungsparallelen für das Gefühl, Gebärdenparallelen für das
Auge, Klangparallelen für das Ohr, architektonische Parallelen im Bau der Gedichte),
2den Gegensätzen in der Ähnlichkeit«, den Variationen, Kontrasten, Steigerungen,
Entfaltungen, Auftakten und Abschlüssen könnte einem naiven Leser Angst werden
vor der Bewußtheit des Lyrikers. Brecht hat die Erklärung für dieses einzige
Phänomen in einem guten Worte wenigstens angedeutet. Er nennt Meyer »eine
äußerst harmoniebedürftige Natur, die antithetisch organisiert ist« (7). Das heißt,
wie ich ergänzend interpretieren möchte, die beziehungsreiche Form der Meyerschen
Gedichtsammlung ist nicht nur das Werk eines ordnenden Verstandes, sondern
spiegelt zugleich die Form eines Erlebens. Dieses Erleben war schon beziehungs-
reich. Der Künstlerverstand hatte bei der Zusammenstellung kein sprödes, zu-
sammenhangloses Material vor sich (wie es, um einen Antipoden zu nennen, z. B.
Liliencron gehabt haben mag, der gleichsam immer eigensinnig aus dem Augenblick
empfindet), sondern das Material rief nach der Formung, die wir an der fertigen
Sammlung bewundern. Meyer empfindet den Lebensaugenblick gleichsam schon
historisch, d. h. im Zusammenhang, in Beziehungen aus einem Ganzen — kein Wunder
daher, daß sich die Augenblicke später wieder zu einem Ganzen fügen lassen. Diese
»historische«, dem eigenen Ich gegenüber distanzierende Art des Erlebens hat wenig
Freunde. Man vermißt daran die »Unmittelbarkeit«. Ich kann in diesem Schlag-
wort aber nichts anderes als den Ausdruck der Verständnislosigkeit für einen so wert-
vollen Erlebenstypus finden, dem Hölderlin, Novalis, Leopardi und C. F. Meyer an-
gehören.

Aus der »historischen« Empfindungsweise Meyers erkläre ich mir, daß man die
bis auf die Verszeilen und einzelnen Worte sich erstreckenden Parallelen und Kon-
traste, die Brecht nachweist, nicht als gesucht oder gemacht empfindet, sondern
hinnimmt als etwas, was so sein muß. Auch die Einheit der beiden Hauptgruppen,
der persönlichen und der historischen Gedichte, rechtfertige ich daraus: die histori-
sche Stellung dem eigenen Leben gegenüber drängt von selbst zur Darstellung des
Ich an historischen Momenten.

Ich bin auf die Erlebnisweise des Dichters zurückgegangen, was auch Brecht
(206) hat tun müssen. Damit soll der Blick nicht vom objektiven Gebilde abgelenkt
werden. Die Rückwendung auf den Dichter soll vielmehr nur das Vorurteil be-
seitigen helfen, als ob alles, was Anordnung und Form sei, auch gemacht und ge-
künstelt sein müsse. Die Form des Ganzen ist bei Meyer ebenso natürlich wie bei
anderen Dichtern die Form des einzelnen Gedichtes.

Nur einige Proben von der Art, wie Brecht Beziehungen herstellt. Auf den
Beziehungsreichtum der in dem zweiten (historischen) Abschnitt mit den Abtei-
lungen: Antike (»Götter«), Mittelalter (»Frech und fromm«), Renaissance (»Genie«),
Reformation (»Männer«) deute ich nur hin. Die illustrierenden Beispiele hole ich
aus dem ersten Abschnitt. Es steht da z. B. der vielleicht schönste Gedichtreigen,
der Meyer gelungen ist, die Cleliagedichte: Weihgeschenk, der Blutstropfen usw.
 
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