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Zeitschrift für christliche Kunst — 19.1906

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Cremer, Franz Gerhard: Unsere Künstler und das öffentliche Leben, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4095#0109

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1906. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 5.

158

Raphaels, der Besitz seiner Werke ist zu einem
Elemente geworden, auf dem die menschliche
Bildung überhaupt beruht. Die Menschen
greifen danach als nach etwas, das zu ihrem
Wohlsein unentbehrlich ist." — So wurde der
Meister der ,,Sistina" also das, was schon Horaz 5)
vom Künstler und Dichter verlangt: „ein Er-
zieher der Menschheit."

Daher bleibt das Ziel aller Schulung für
Lehrende und Lernende in der Kunst: für das
Höchste zu befähigen, aber auch das Höchste
zu erstreben! auf daß sich mit der Freude
am Schönen der Sinn für das Gute stärke und
edle Sitte fördere, damit sich des Allwaltenden
Absicht erfülle und sich Fürsten und Volk
zum Ruhm des Vaterlandes nur in Tugend-
verherrlichung, doch nie abseits von der Klug-
heit sicherem Pfad finden lassen. Dies hehre
Ziel drückt Lucian6) in dem kurzen Worte
aus: „Denn auch die Werke der Kunst sind
Geschenke der Götter."

Wenden wir uns Leon ar do da Vi nci zu,
dann charakterisiert sich dessen Auffassung
von des Künstlers Schulung sofort in der
Überschrift des ersten Abschnittes des eisten
Teiles des ersten Bandes „Von der Malerei",7)
die da lautet: „Ob die Malerei Wissen-
schaft ist oder nicht", wo er alsogleich mit
der Lehre der Geometrie und von deren
Beginn: dem Punkte, ausgeht, und dann
gegen Schluß besagten Abschnittes bemerkt:
„Keine menschliche Forschung kann man wahre
Wissenschaft heißen, wenn sie ihren Wee nicht
durch die mathematische Darlegung und Beweis-
führung hin nimmt." — Diese Anschauung,
wiederum ererbtes Erbe, dankte Leonardo
seinen Lehrern, welche dann wie für ihn, so
auch für seine Gefolgschaft erneut Ziel und Rich-

5) Er nennt sie „Tempelhüter der Tugend" —
Aedituos virtutis — Epist. I, üb II, V. 230 ..Ad
Augustum." — Diese Stelle zu ergänzen und um zu
zeigen, wie man auch in Griechenland gedacht hat,
mag noch an ein Wort des durch ehrenhafte Ge-
sinnung, Rechtlichkeit und Charakterfestigkeit ebenso
hervorragenden, wie von allem Volke geschätzten
Atheners Lykurgos (geb. Ol. 98 [396—393] erinnert
sein: „. . . . indem sie nachahmend das menschliche
Leben darstellen, wählen sie die edelsten Taten aus,
und üben durch ihre Sprache und ihre Darstellung
auf das Herz der Menschen bestimmenden Einfluß."
(Lykurg, orat. contr. Leoer. cap. 26.)

"■', Der Cyniker. Abschn. .r> (Lyicnus).

7) Nach dem Codex Vaticanus (Urbinas), heraus-
gegeben, übersetzt und erläutert von Heinrich Ludwig
in 3 Bänden. (Wien 1882.)

tung bestimmte; wozu sie in ihrer Durchführung
befähigte, zeigt sein nie wieder erreichtes Werk:
das Abendmahl. In dieser erhabenen Schöpfung
feiert die mathematische Wissenschaft in ihrer
künstlerischen Verwendung den höchsten und
schönstenTriumph, da es gleichsam eine lebendig
gewordene, beseelte Geometrie genannt zu
werden verdient. In geistvoller Weise um-
schreibt dies Burckhardt8) kurz mit den Worten:
„Das aber ist das Göttliche an diesem Werke,
daß das auf alle Weise Bedingte als ein völlig
Unbedingtes und Notwendiges erscheint." Eine
weitere Erklärung hierzu, die vielleicht mancher
bei der heutigen, für den Künstler durch-
aus unzureichenden Schulung wünscht,
gibt uns Plato in dem trefflichen Worte: „Das
Studium der Mathematik reiniget und belebet
das Organ der Seele" wie in jenem: „Die
Gottheit operiert stets mathematisch",0) wozu
weiterhin, wie in jedem das höhere Leben be-
rührenden Falle, die heilige Schrift in den er-
habensten und lichtvollsten Darstellungen den
erforderlichen Aufschluß gibt.

Die Notwendigkeit einer ausreichenden
wissenschaftlichen Bildung drückt Leonardo
dann auch auf das Bestimmteste im $ 80 des
IL Teiles oben genannten Werkes aus, wo er
vom Irrtum derer10) spricht, welche die Praxis
üben ohne die Wissenschaft, und dann sagt:
„Diejenigen, welche sich in Praxis ohne Wissen-
schaft verlieben, sind wie Schiffer, die ohne
Steuerruder oder Kompaß zu Schiffe gehen,
sie sind nie sicher, wohin sie gehen." Wie er
aber mit der Kenntnis und dem Eifer eines
wahren Lehrers und Künstlers alle seine Schätze
vor uns aufgetan, welche die Praxis und die
Theorie ihm gegeben, die sie ihm gewisser-
maßen zu weiterem Ausbaue anvertraut, so mahnt

8) Cicerone II. 2, 672. Dr. Erich Frantz erinnert
im IL Bande seiner »Geschichte der christlichen
Malerei«, S. 6f)l, an ein Wort Lanzi's, der dieses
unvergleichliche Werk treffend „ein Kompendium
aller Studien und Schriften Leonard.>s" heißt.

9) M. s. bei Plutarch, »Moralische Schriften« II.
B. VIII, 2. Frage: „In welchem Sinne sagt Piaton,
Gott treibe immer Geometrie?"

10) Ebendort spricht er sich Absch. 54 vielleicht
noch deutlicher aus, wo er von „der Weise des
Studierens" (Del modo del studiare) handelt. Er
sagt: „Studiere zuerst die Wissenschaft und dann
verfolge die Praxis, die aus selbiger Wissenschaft
hervorgeht." — Die große Bedeutung dieses so
schlichten Rates wird dann erst voll und ganz ge-
würdigt werden, wenn ich die mit der Technik zurilck-
gefundenen Lehrmethoden der alten Schulen ver-
öffentlicht habe. (D. V.)
 
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