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Zeitschrift für christliche Kunst — 19.1906

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Cremer, Franz Gerhard: Unsere Künstler und das öffentliche Leben, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4095#0140

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205

1906.

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.

206

bedecken liebt." — Wir aber, in unserer als so
sehr fortgeschritten gepriesenen Zeit werden
uns doch nicht das Armutszeugnis geben, das
nicht einmal zu vermögen, was schon in jenem
,saeculum obscurum' ein unbekannter
Miniaturist17) von einem jeden Künstler als
ganz selbstverständlich voraussetzt, nämlich,
daß er über ein zur Weiterforschung be-
fähigendes Wissen verfüge! „Denn ein ehr-
licher Künstler", so sagt er, „wird sich
selbst als unfähig erklären müssen, wenn er
nicht aus eigener Erfindungsgabe Experimente
macht und mittelst seines Verstandes außer
dem, was er von anderen gelernt hat, gar
nichts weiter selbständig zu erfinden imstande
ist. Denn alle und jede Kunst ist erfunden
und erfaßt worden von den alles durchdringen-
den Sinnen der Menschen, indem Gott, durch
den alles besteht, den Menschen seine Weisheit
schenkte." Die Offenheit und Bestimmtheit,
mit der der Berner Unbekannte belehrt und
fordert, zwingt uns näher zuzusehen, woher er
diese Berechtigung nimmt, denn stützt auch er
sich wieder auf ältere, auf voraufgegangene
Forderungen, dann dürfen wir hoffen, auf dem
von ihm genommenen Wege gleichfalls dem
Urquell näher zu kommen. Zwar kann an
dieser Stelle eine abschließende Forschung nicht
unser Ziel sein, die Erinnerung an van Eyck,
an seine Vorgänger und Nachfolger, legt uns
aber im Hinblick auf die eingangs erwähnten
Besprechungen nicht nur den Wunsch, sondern
eine gewisse Verpflichtung zum Vergleiche
zwischen der alten bewährten und der sich sicht-
lich nicht bewährenden neuen Schulung nahe!
Professor Dr. Hermann Hagen,18) dem wir
die Entdeckung jenes vorerwähnten Traktates
danken, schreibt dazu unter Bern, Februar 1874:
„Der Autor unseres Fragmentes, ohne Frage
einer von den braven Schülern des Benedictus
von Nursia, tritt uns darin nicht nur als ein
ganz vortrefflicher Meister seiner Kunst ent-

dem Boden der Ortskunde nachgewiesen. Zweite
Ausgabe mit einem Vorwort von Franz Reber (Wies-
baden 1873), II. Bd., »Kleinasien nnd die hellenische
Welt«. S. 2.

17J Anonymus Bernensis über die Bindemittel und
das Kolorieren von Initialen. Zum erstenmale aus
der Berner Handschrift herausgegeben und mit einer
Übersetzung versehen von Hermann Hagen. Mit
einer Notiz über die Quellenliteratur der Eitempera-
technik von Albert Ilg. (Wien, Wilhelm Brau-
müller, 1874.)

1S) A. a. O., S. 378.

gegen, der aller Gespreiztheit und jedem After-
wissen abhold ist, sondern auch als ein biederer,
bescheidener Mensch, der aber bei aller Gottes-
furcht und Demut doch immer wieder auf die
Vernunft und den von Gott gegebenen Ver-
stand zurückgreift und sich herzlich über jede
neue Entdeckung in der Kunst zu freuen ver-
steht. Unsere Achtung vor dem Mittelalter,
das überhaupt bei näherer Betrachtung mehr
gewinnt als verliert, wird durch den Anonymus
Bernensis nicht wenig gesteigert. Indem uns
so der Autor nicht als eine verschwommene
Gestalt entgegentritt, sondern als scharf-
gezeichnete, charakterfeste Persönlichkeit, ver-
schmerzen wir es gerne, daß uns sein Name
nicht erhalten ist, freuen uns vielmehr am
reellen Inhalt des Gebotenen, und dessen ist
mehr, als manch' laut klingender Name ver-
gangener Zeiten geleistet hat." Und damit sagt
Hagen eine Wahrheit, die uns nicht minder
verpflichtet, als uns seine Entdeckung erfreut.
Denn er eröffnet uns damit die Aussicht auf
einen Pfad, der deutlich und übersehbar nicht
nur durch die Jahrhunderte der christlichen
Zeitrechnung, sondern weit über diese hinaus
zurückleitet.

Wir waren ja schon vorhin mit von
Scheffel auf dem Wege zur St. Gallener
Benediktiner-Abtei; wenden wir uns nochmals
dahin zurück und treten in die Klosterschule,
in die Kunstwerkstätte, in die stille Zelle des
Miniaturisten und die durch kostbare Hand-
schriften ruhmwerte Bücherei, dann wird es uns
gar bald wie Schuppen von den Augen fallen,
und wir lernen den Gang der Dinge kennen.
Wir werden sehen, auf welche Weise und wie
frühe schon antike Bildung im Norden Fuß faßte,
und wie dann in unausgesetztem Verkehr und
Austausch des Nordens Errungenschaften wie-
derum dem Süden zugute kamen. Diese gegen-
seitigen Beeinflussungen erweisen sich von solch
innerer Stärke und von so durchdringender,
umfassender und nachhaltiger Wirksamkeit, daß
sich eine diesbezügliche Monographie zur
fesselndsten Lektüre gestalten würde.

Was bedeutet nicht schon die einzige Frage
nach der Ölmaltechnik van Eycks! Ist sie nicht
für viele schon mehr denn ein Kopfzerbrecher'l,
vielmehr ein abgrundtiefes Rätsel geworden.10)

19) Charakteristisch ist hierfür, was J. G. Müller & Co.
(Hersteller der von Pereira'schen Temperafarben) unter
Stuttgart, im November 1905 in einem eingehend die
augenblickliche Lage beleuchtenden Zirkular sagen.
 
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