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Zeitschrift für Geschichte der Architektur — 4.1910/​11

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Mettler, Adolf: Die zweite Kirche in Cluni und die Kirchen in Hirsau nach den "Gewohnheiten" des XI. Jahrhundert, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.22224#0022
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er zu dem Bogen, der in St. Paul im Lavant der Vierung vorgelegt ist, bemerkt, er sei
«völlig ohne Zweck, nur daraus erklärbar, daß sich der Architekt aufs engste an das ihm
gegebene Vorbild St. Peter in Hirsau anschloß» oder wenn er von einem «Kopieren,
ohne über Bedeutung und Notwendigkeit einer Anordnung nachzudenken» spricht. Ich
suche die Lösung der Schwierigkeit in der Einrichtung des kleinen Chors. Er sollte
gegen das Laienhaus abgegrenzt werden auf monumentalere Weise als durch eine bloße
Schranke. Diesem Zweck dienen jene auffallenden Stützen und Bögen, die, konstruktiv
jetzt nicht mehr begründet, doch vom Standpunkt der Benützung der Kirche durch Ge-
weihte und Ungeweihte ihren guten Sinn habeu. Im ersten Entwurf von St. Peter in
Hirsau, der, obgleich er nicht zur Ausführung kam, doch in der Hirsauer Schule nach-
wirkte — man möchte ihn den ideellen Schöpfungsbau
des cluniazensisch-hirsauischen Kirchentypus nennen
— war diesen Baugliedern eine doppelte Aufgabe, eine
wirklich tektonische und eine liturgische zugewiesen.
Später löste sich die liturgische Funktion ab und führte
ohne die andere ein selbständiges Dasein weiter.1

6. Die Vorhalle.

Ein cluniazensisches Münster hat regelmäßig vor
der Westfront eine geräumige Vorhalle. In den CF
heißt sie Galilaea oder atrium, Bernhard von Cluni
wechselt ab zwischen den Ausdrücken vestibulum,
Galilaea und porticus, Ulrich nennt sie immer vesti-
bulum und diese Bezeichnung wird von Wilhelm von
Hirsau übernommen, der einmal (CH II 50, S. 539)
auch das Wort paradisus gebraucht.

Über den Zweck der Vorhalle gehen die moder-
nen Ansichten weit auseinander. Schlosser sieht in
ihr nach der übrigens nicht ganz unzweifelhaften alt-

Abbildung 6. Östliches Ende der Kirche 1 Die Zisterzienser empfanden das Bedürfnis nicht, die

von Maulbronn. Grenze zwischen dem Teil der Mönche und dem der Niehtmönche

durch die architektonische Gliederung desBaukörpers zu bezeichnen.
Sie begnügen sich damit, zwischen dem chorus monachorum, den der retrochorus (der minor chorus der Cluni-
azenser) abschließt, und zwischen dem chorus conversorum, wie sie die Westhälfte der Kirche nennen, eine
niedere Quermauer durch die ganze Kirche zu legen. Auch binden sie sich nicht mehr an die Sitte, den
Hauptchor mit der Vierung zusammenfallen zu lassen, sondern erstrecken ihn nach Bedarf tief in das Lang-
haus hinein, vergl. die Grundrisse z. B. von Clairvaux und Fontenay. Beiläufig bemerkt macht diese Eman-
zipation die so viel beanstandete Anlage der Ostpartie in Maulbronn (Abbildung 6) begreiflich. Weil die
Vierung ihre Bestimmung, den Chor aufzunehmen, verloren hatte, konnte sie zusammenschrumpfen zum
bloßen Durchgang zwischen Presbyterium und Chor, wie auch die Querflügel, in denen nicht mehr die
überschüssigen Mönche Platz finden müssen, in Altarzellen und einen Zugang zu ihnen aufgeteilt, werden
konnten. Rein praktisch angesehen ist der Maulbronner Grundriß einwandfrei, ein interessanter, wenn auch
wenig glücklicher Versuch, die Tradition der Zweckmäßigkeit unterzuordnen. Die Rücksichtslosigkeit, mit
der dabei feinere Werte, wie die ästhetische Wirkung der Vierung und des Querhauses geopfert wurden,
ist echt zisterziensisch. Damit soll nicht bezweifelt werden, daß nach dem ersten Bauplan die Ostkapellen
Annexe eines voll entwickelten Querhauses bilden sollten; ich möchte nur die spätere Abweichung von diesem
Plan verständlich machen und nicht, wie Schmidt (Maulbronn S. 8), einer bloßen «Verrechnung im Grundriß»
die Schuld geben.
 
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