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Zeitschrift für Geschichte der Architektur — 4.1910/​11

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Klaiber, Hans: Über die Anfänge der Hallenkirche in Schwaben
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https://doi.org/10.11588/diglit.22224#0270
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höhere Fähigkeiten der raumkünstlerischen Organisation da, wo es gilt, durch feinfühlige
Anwendung der Gesetze der Proportionalität und Rhythmik, durch die Abwägung der
Massen und die Sprache der tektonischen Glieder verschieden organisierte Räume zu einer
Einheit zu verbinden, ein Ziel, das nicht nur dem Zentralbau, sondern auch der Anlage
mit ausgesprochener Achsenrichtung erreichbar ist. Doch sollen diese Fragen, die, wie
bekannt, in dem Streit um die Hallenkirche seinerzeit genügend geklärt worden sind, hier
nicht wieder aufgerollt werden; es genüge, den Standpunkt festgestellt zu haben, von dem
aus wir die Sache betrachten.

Als früheste Hallenkirche in Süddeutschland pflegt man im allgemeinen die Heilig-
kreuzkirche in Gmünd anzusehen, die eben darum als Ausgangspunkt einer neuen Ent-
wicklung in der Literatur viel erwähnt worden ist. Es soll nun im folgenden wahrschein-
lich gemacht werden, daß der konstruktive Gedanke des Hallenbaues in Gmünd nichts
Neues, sondern in der hochgotischen Bauschule Niederschwabens bereits bekannt und in
Erscheinung getreten war. Schon an ihrem ersten großen Werk, der Reutlinger
Marienkirche, möchte Grademann1, der Erforscher ihrer Baugeschichte, Spuren eines
Hallenprojektes erkennen. An den in spätromanischer Zeit begonnenen Chortürmen finden
sich auf der westlichen, dem Schiff zugekehrten Seite als Gurtenträger gedachte Konsolen,
Anfänge von Kreuzrippen und die Nuten für den Ansatz der Schildbogen, die man auf
den Plan eines Hallenbaues beziehen könnte, der dem traditionellen und nach außen
ansehnlicheren Basilikenschema zuliebe wieder verlassen worden wäre. Immerhin lassen
diese Anzeichen auch eine andere Deutung, nämlich auf eine angefangene Querschiff-
wölbung, zu. Verschiedene Gründe sprechen dafür, daß in der Tat ein Querschiff, aller-
dings von geringer Breite und innerhalb der Flucht des Langhauses, geplant war (ver-
kümmerte Querhausanlagen kommen auch sonst vor, beispielsweise, um im Land zu
bleiben, in Maulbronn). Im Außenbau erwecken die aus Überresten rekonstruierbaren
Portale mit der durch die Hirsauer in Schwaben eingeführten Verknüpfung des Sockel-
profils als Türrahmung und die großen Fenster darüber, die unmittelbar westlich an die
Ghortürme anstießen, den Eindruck, daß man dieser Partie die äußere Ausstattung von
Kreuzflügeln verleihen wollte. Und im Innern scheint die Erinnerung an das Querhaus-
projekt gleichfalls in der vom übrigen Langschiff abweichenden Behandlung der ersten,
östlichsten Travee nachzuleben, deren Pfeiler, Dienste und Quergurten eine stärkere Bildung
aufweisen. Mag man auch das letztere Moment weniger beweiskräftig finden, da es sich
aus einem Wechsel der Bauleitung erklären könnte, so scheint das erstere, daß man
dem Ostjoche nach außen das Ansehen von Querhausflügeln geben wollte, um so wich-
tiger; sollte hier vielleicht die Erklärung für das ganze Motiv liegen? In der allgemeinen
Anlage gleicht die Ostpartie den entsprechenden Teilen der reichsstädtischen Pfarrkirchen
zu Eßlingen (St. Dionys) und Heilbronn (St. Kilian). Während aber bei diesen das Lang-
haus dem schlichten, türm- und querschifflosen Typus der Bettelordenskirchen folgt, könnte
hier den Meister der älteren Beutlinger Ostpartie die Erinnerung an die Querhausfassaden,
die im Westen der Übergangsstil und die Gotik gezeitigt hatten, veranlaßt haben, etwas
Ahnliches zu versuchen. Dabei hätte er, den lokalen Gewohnheiten folgend, zwar kein
richtiges, im Grundriß sich klar auswirkendes Kreuzschiff, wohl aber eine Art Kompromiß,
ein erstes querhausartiges Ostjoch gebildet, das sich nach außen etwas reicher dekorieren
ließ. Frühgotische Baugedanken waren ja dem Meister des Übergangsstils nicht fremd,

1 Vergl. Gradmann, Merz und Dolmetsch, Die Marienkirche zu Reutlingen, 1903.
 
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