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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 5
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Avenarius, Ferdinand: Kokotten im Tempel
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0079

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Lrstes Dezemberbett t69Z.

5. Dekt.

Erscheint

Derausgeber:

Ferdinand Nnenarius.

9. Zadrg.

Ikokotten im Tempel.

s war doch schön, als zu Ehren der seligen
Umsturzvorlage das Redesest gegeben wurde,
bei dem so viele der Lenker des Reichs um
den Preis der höchsten Sittigkeit starteten. Wen
etwa im Lause der Zeit zudringliche Bedenken darüber
belästigt hatten, ob die hohen Regierungen auch im-
mer und überall und ausnahmlos im Vaterland die
Hütung von Sitte und Tugend mit glücklichstem
Geschick besorgten, eindringlich wie mit geistigen Ohr-
feigen ward er von den Gewaltigen eines Besseren
belehrt. Es ist ja zuzugeben, daß die kunst- und
literaturgeschichtlichen Kenntnisse der Herren mit-
unter ansechtbar waren, wenn sie z. B. Keller und
Hofsmann von Fallersleben gleich Schmieranten be-
trachteten, aber wie bezaubernd kernecht war die Werk-
sreudigkeit derer, die von kurulischen Sesseln über
Buch und Bühne richteten! So faltete denn der Bür-
ger Pie Hände über der Gegend, da Herz und Ma-
gen nah beieinander wohnen, und schloß die Lider
und ließ vor seinem innern Seelenlicht mit sanstem
Schaudern Bilder vorüberziehen von Schrecklichem,
das anderswo war und ohne solch gute Obrigkeit
wohl später einmal, ach, auch zu uns hätte kommen
können!

Zum Beispiel vom Land der Erbfeinde her, vom
Seinebabel, aus der Lasterhöhle Paris. Dort tanzte
ja neben andern Teufelinnen die kleiderarme Muse
der Operette so auf den Brettern herum, wie sie,
Gottlob, bei uns sich keinen Abend ans Rampenlicht

wagen durfte. Was nun gar hatte man nicht von
ihrer rassiniertesten Vertreterin, von dieser Madame
Anne Judic gehört! Freilich, an einer staatlichen
Bühne trat sie auch an der Seine wohl micht auf,
das ging denn doch auch drüben nicht an, aber bei
uns hätten die Wächter der Sitte ihrem Phalluskult
auch im abgelegensten Winkeltheater das schnellste
Ende gemacht. Seuszte da nicht erleichtert die Brust:
ich danke dir, Gott, daß wir nicht sind, wie jene'?

Nun, die Leute vom Kunstwart sind etwas skep-
tischer als dieser Bürger, wo sich's um staatliches
Theaterwächtertum handelt. Aber wir gestehen, beim
Lesen eines kleinen Blattes Papier, das wir neulich
erhielten, erkannten wir uns doch als recht Harmlose
gute Jungen. Unsere Augen wurden immer größer,
als wir die Spielliste lasen des Königlichen Re-
sid e n zt h e a ters z u M ünch e n vom 11. bis 17.
November. „Oa lleinme ü bNpack, „LrillÄiit/^cllille",
„Oivorcori8^, „llllniclle", „Oa. Hori88otteZ „8pec-
tacle coripie^, „Uarkrirri^. Und die Darsteller?
„Mad am e Ann e Ju di c mit i hr e m Künstler-
personal". Wir lasen's wieder und wieder. Aber
es blieb dabei: in dem feinsten und edelsten Theater-
raume, den vielleicht Deutschland überhaupt besitzt,
im königlichen Residenztheater zu München, verwer-
tete die sünfzigjährige Frau Judic vor erfreuten
Herren die Ersahrungen eines reichen Lebens, — im
Kunsttempel tanzte man Kankan.

Chauvinisten sind wir nicht. Die Thatsache, daß
 
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