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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Denkmalpflege im ländlichen Raum — Heft 1.1981

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Weidner, Hartmut P.; Gläntzer, Volker: Das westliche Niedersachsen, der Regierungsbezirk Weser-Ems: entwicklungsgeschichtliche Erläuterungen zum Umfeld der Reiseroute und der Fahrtziele
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https://doi.org/10.11588/diglit.50202#0027
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Das westliche Niedersachsen

besitzen die Wurtendörfer in Teilen der ostfriesischen
Marsch.
Die Besiedlung der Marschen reicht weit zurück in die Zeit
vor der Zeitenwende. Als zu Beginn des 1. Jahrtausends der
steigende Wasserspiegel als Folge der Küstensenkung das
Marschland zunehmend den Sturmfluten auslieferte, began-
nen die frühen Siedler ihre Gehöfte auf künstlich aufge-
schüttete Erdhügel zu verlegen. Sie wurden im Laufe der
Zeit zu Dorfwurten immer mehr vergrößert und erhöht.
Bis zum 12. Jahrhundert entstand so eine charakteristische
Siedlungslandschaft mit den meist 5 bis 6 m hohen Dorfhü-
geln, die auch nach der Eindeichung der Marschgebiete (10.
bis 12. Jahrhundert) nicht aufgegeben wurden. Die fehlende
Sicherheit der frühen Deichbauten (z. B. fielen der Marcel-
lusflut im Jahr 1362 große Teile des damals bereits völlig
eingedeichten Ostfrieslands zum Opfer, die Leybucht zeugt
heute noch von dieser Verheerung) führte dazu, daß sich die-
se Siedlungsformen bis in jüngste Zeit erhalten haben. Die
Krummhörn, in der dieses Siedlungsbild im Gegensatz zu al-
len anderen Marschengebieten noch ohne allzu tiefgreifende
Störung in Erscheinung tritt, stellt deshalb ein einzigartiges
Denkmal dar.
Charakteristisch für die Wurtdörfer (z. T. auch Warfen ge-
nannt) ist die zentrierte Form, oftmals fast kreisförmig, mit
der Kirche im Zentrum. Nahebei lag, in vielen Fällen heute
abgegangen, die Burg (Steinhaus) eines Häuptlings (ostfrie-
sischer Landadel). Die großen Gehöfte (Plaatsen) bilden
meist ringförmig den Rand der Siedlung, den Wohnteil zum
Zentrum, den Wirtschaftsteil wurtabwärts gerichtet, wo ein
Ringweg mit parallelem Entwässerungsgraben den ganzen
Ort umschließt.
Die Eindeichung der Marschen führte zu der Notwendigkeit
einer planmäßigen Entwässerung der Feldfluren, den soge-
nannten Tiefs, und forderte flutsichere Durchlässe durch die
Deiche, die Siele.
Diese Entwässerungskanäle bildeten für Jahrhunderte das
wichtigste Verkehrsnetz in Ostfriesland. Orte, bei denen sol-
che Siele angelegt wurden, übernahmen deshalb auch bereits
früh gewisse Hafenfunktionen und Neugründungen (wie
z. B. Greetsiel) wurden von Anfang an mit dieser Zielset-
zung versehen.
Die Sielhäfen stellen also eine Übergangsform vom rein
agrarisch oder durch Fischerei bestimmten Dorf zur städti-
schen Siedlung, die verstärkt durch Gewerbe-, Handels- und
Verwaltungsfunktionen bestimmt wird. Diese Zwitterstel-
lung ist in den meisten Ortsbildern der erhaltenen Sielhäfen
bis zum heutigem Tage ablesbar.
Neben solchen meist sehr alten und in einem langwierigen
Wachstumsprozeß entstandenen Siedlungen wird die Land-

schaft Ostfrieslands vor allem geprägt von planmäßigen
Siedlungen aus den Kultivierungsepochen von Marsch und
Moor des späten Mittelalters und der Neuzeit. Die durch
Eindeichungsmaßnahmen zurückgewonnenen Marschflä-
chen vor allem im Rheiderland nach der totalen Überflutung
im 14. Jahrhundert mußten im Schutze der Deiche natürlich
auch wieder völlig neu urbar gemacht werden. Dies geschah
vom Geestrand her, der durch die wie an einer Kette aufge-
reihten Gehöfte der entstehenden Marschhufensiedlung die
zeitweilige Grenze zwischen Land und Meer verdeutlicht.
In den durch Eindeichung gesicherten Flächen entstehen in
direkter Anlehnung an den Deich sogenannte Deichhufen-
siedlungen und im Rahmen der jüngeren Landgewinnungs-
unternehmungen seit dem frühen 17. Jahrhundert die Pol-
dersiedlungen. Durch die fortwährende Überwindung der
mit den Deichlinien jeweils gesetzten Grenzen dokumentie-
ren solche Reihensiedlungen wie auch die vielerorts noch
bestehenden sogenannten Schlafdeiche in der Landschaft in
überzeugender Weise die enorme menschliche Leistung, der
Ostfriesland seine Existenz verdankt.
Zu den jüngsten Siedlungsformen überhaupt zählen die
Moorkolonien und Fehnsiedlungeh. Kaufleute und andere
kapitalkräftige Unternehmer begannen um die Mitte des
17. Jahrhunderts zur Gewinnung von Brenntorf mit der hol-
ländischen Vorbildern folgenden Erschließung der riesigen,
bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbesiedelten Moorflächen
Norddeutschlands. Ausgehend von einem natürlichen Was-
serlauf mußte als erstes ein Kanal zur Entwässerung des
Moores und zum Abtransport des Torfes angelegt werden.
Dieser Kanal wurde damit gleichzeitig zur Hauptstraße der
entstehenden neuen Siedlung, deren Hausstellen sich in re-
gelmäßigen Abständen zu beiden Seiten dieser Achse reihen.
Das entwässerte Moor wurde abgetorft. Der darunter zutage
tretende Sandboden (Leegmoor) mußte dann durch Dünger
und Torferde in einem früher Generationen dauernden Pro-
zeß in Ackerland verwandelt werden.
Es entstanden auf diesem Prinzip im Laufe der Zeit lineare
Siedlungsgebilde von vielen Kilometern Länge und ein sonst
nur in Holland nachweisbares dichtes Kanalverbundsystem
ohne Beispiel in Deutschland. Ohne grundsätzliche Ände-
rung der Vorgehens weise und der daraus entstehenden
Strukturen hatte diese Form der Erschließung der Moore für
den Menschen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestand.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Kanäle wegen ihrer
abnehmenden wasserwirtschaftlichen und verkehrstechni-
schen Bedeutung kommunalisiert. Damit wurde ein einzi-
gartiges landschaftsgliederndes technisches System mit ei-
nem Verwaltungsakt aufgegeben, da die Kommunen natür-
lich nicht in der Lage sind, aus eigener finanzieller Kraft,
aber auch aus eigenem politischen Bewußtsein heraus eine
solche eindeutig regionale Anlage zu erhalten.

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