Das Chorgitter des Osnabrücker Domes - Geschichte, Funktion, Beziehungen
Vom Lettner zum Chorgitter
Franz Ronig
Fast alle mittelalterlichen Kathedralen, Abtei- und Stiftskirchen -
auch Pfarrkirchen mit einem Kapitel - besaßen früher einen, mit-
unter sogar zwei Lettner1 - einen vor dem Ostchor, einen ande-
ren vor dem Westchor, wie man es heute noch im Naumburger
Dom sehen kann. Auch der Trierer Dom besaß einst wegen sei-
ner zwei Chöre zwei Lettner. - Der Name Lettner (mhd. Lekter)
leitet sich vom lateinischen lectorium, Lesepult ab. Im mittelalter-
lichen Latein hieß diese Einrichtung häufig pulpitum (Lesepult)
oder auch doxale (Ort, wo die Doxologien gesungen werden).
Auch in der französischen Sprache entstand der Name aus der
Funktion des Lesens: Jube leitet sich ab vom Anfangswort der
Bitte des Lektors um den Lesersegen: Jube Domne benedicere
(gib den Segen, Herr!). Im Französischen benannte man die Lett-
ner auch Tribunes, Pupitres, Lectriers und Doxales.2 Durch diese
Benennungen sind bereits wichtige Funktionen des Lettners an-
gegeben: der Vortrag der Lesungen im Stundengebet vom Lett-
ner herab, mitunter auch der Lesungen und der Predigt in der
Feier der heiligen Messe wie auch der Lobgesang.
Die Funktion des Lettners ist indessen nicht unbedingt nur
aus dem Vollzug der Liturgie abzuleiten. Eine seiner mittelalter-
lichen Ursprünge dürfte darin zu sehen sein, dass der eine große
Kirchenraum in zwei Räume, zwei Kirchen, geteilt werden sollte,
in die Mönchs- oder Stiftskirche hinter dem Lettner und in die
Pfarrkirche (oder auch den Raum der Laien) vor dem Lettner. Der
Altar der Stiftsherren (oder der Mönche) stand als der eigentli-
che Hochaltar im Raum hinter dem Lettner, der Pfarraltar jedoch
vor dem Lettner. Da der Kreuzaltar seit karolingischer Zeit meis-
tens im Zentrum einer Kirche - also vor dem Lettner - stand,
wurde der Kreuzaltar normalerweise zum Pfarraltar und oft mit
dem Lettner verbunden. Es waren also auch Gründe, die aus der
soziologischen Gliederung des Kirchenvolkes erwuchsen. Mitun-
ter war auch eine gewisse räumliche Absonderung der Kleriker-
kirche aus Gründen des Gottesdienstes gewünscht; vor allem
dann, wenn die Klosterkirche zugleich auch Wallfahrtskirche
war und die Kleriker beim Stundengebet von den vorbeiziehen-
den Wallfahrern nicht gestört werden sollten. - Morphologisch
und funktional sind die riesigen spanischen Schrankenanlagen
(Trascoro) und die griechisch-russischen Ikonostasen vom Lettner
zu unterscheiden.
Die liturgische und auch architektonische Herkunft des Lett-
ners darf historisch in der Schrankenarchitektur frühchristlicher
und frühmittelalterlicher Kirchenanlagen gesucht werden. Auch
diese hatten eine Abteilung von Laien und Klerikern, dazu auch
von Volksraum und Altarraum (was ja bei den Lettnern nicht
der Fall ist) zum Ziel. Allerdings waren sie transparenter als die
späteren Lettner. Gewöhnlich handelte es sich um Säulenstellun-
gen, die durch einen Architrav oder ein Gebälk miteinander ver-
bunden waren (templum). Zwischen den Säulen waren niedrige
Schrankenplatten oder Gitter (cancelli) eingestellt, die den Zu-
gang zwar verhinderten, den Blick über sie hinweg aber frei-
ließen. Allerdings konnte der Blick durch zwischen die Säulen
gehängte Vorhänge verhindert oder eingeschränkt werden.
Das Schließen und das Öffnen der Vorhänge hing mit der Auf-
fassung von der Feier der Mysterien zusammen (das schauervolle
Mysterium).
Die Funktionen, denen der Lettner (außer der Raumtren-
nung) diente, waren vielfältig. Um möglichst viele Funktionen zu
ermöglichen, waren Hallenlettner mit einer größeren Bühne über
den Gewölben am geeignetsten. Unter den Gewölben der zum
Hauptraum orientierten Halle, die eine dichte oder auch trans-
parent-durchbrochene Mauer als Abschluss zum Chor hin besaß,
konnten Altäre aufgestellt sein, wie das noch erhaltene Beispie-
le, Abbildungen oder auch Berichte zeigen. Der Pfarraltar rech-
nete gewöhnlich zu diesen Lettneraltären. - Auf der Bühne war
in die Balustrade oft ein Lesepult integriert, das gewöhnlich zum
Kapitelschor hin orientiert war. Mittelalterlichen liturgischen
Quellen ist zu entnehmen, dass das Evangelium der heiligen
Messe vom Lettner aus gesungen wurde. Außer den Lesungen -
auch für die Matutin - diente die Lettnerbühne ebenso für chori-
sche liturgische Gesänge (Doxale!) innerhalb der Liturgie der
Messe wie auch der Matutin, vor allem dann, wenn es sich um
eine größere Feierlichkeit handelte. Diese Praxis wird teilweise
heute noch (oder wieder) geübt. Auch bei geistlichen Konzerten
wird heutzutage der Lettner einbezogen. - Aber auch bestimmte
liturgische Handlungen fanden auf dem Lettner statt. So ist z. B.
vom Trierer Dom berichtet, dass die Segnung der Palmzweige
am Palmsonntag vom Lettner herab stattfand.3 Auch die Versöh-
nung und Lossprechung der Büßer wurde mitunter vom Lettner
her vorgenommen. - Der Lettner war dann auch der Ort, von
dem besondere Vermeidungen und Proklamationen getätigt
wurden, wie etwa eine erfolgte Bischofswahl oder wichtige an-
dere kirchliche Bekanntmachungen. - Nicht nur in England stand
auf dem Lettner vielfach eine (kleinere, später auch ein große)
Orgel, die der Begleitung des Chorgesanges im Mönchschor
oder im Kapitel diente. - Auch die Reliquienweisung konnte vom
Lettner aus vorgenommen werden; so waren die Reliquien für
eine große Menge Menschen zu sehen und zugleich gegen einen
Zugriff gesichert.
Im Gefolge der durch das Konzil von Trient (1545-1563)
eingeleiteten Liturgiereform - die eigentlich nur einigen mittel-
alterlichen Wildwuchs beschnitt - wurden die Lettner mehr und
mehr als störend empfunden - und dies, obwohl die Konzilstexte
und die nachfolgenden Dokumente nichts darüber aussagten.4
Auch die moderne kirchenhistorische Literatur, die sich mit den
liturgischen Wandlungen nach Trient beschäftigt, sagt zu der
Lettnerfrage so gut wie nichts aus - ob wir das Werk von Emile
Male (L'art religieux, 1931 )5 konsultieren oder das von Anton L.
Mayer (Liturgie und Barock, 1941)6 oder auch Georg Schreiber
(Der Barock und das Tridentinum, 1951)7. Der 6. Band des Hand-
buches der Kirchengeschichte (1967) widmet dem Thema Künste
und Literatur nur zwei Seiten8, obwohl Hubert Jedin bereits
1963 fast die gesamte Literatur zu diesem Thema aufgearbeitet
hatte9, aber wiederum ohne den Lettner. - Diese Enthaltsamkeit
liegt wohl daran, dass sich die Abhandlungen fast nur mit den
Bildkünsten und der Wortkunst befassen.
Betrachtet man jedoch die nachmittelalterlichen Kirchen-
bauten, die als „Initialzündungen" der damaligen Moderne
zu werten sind - wie etwa den Gesü in Rom (1568) oder auch
St. Michael in München (1583) und beider reiche Nachfolge im
weitesten Sinne - so wird klar, dass man keine Lettner oder
höhere Chorschranken mehr brauchte, nicht mehr baute und
auch nicht mehr haben wollte. Natürlich hatten die großen Kir-
chen der Renaissance in diesem Sinne vorgearbeitet. Wo genau
die geistigen Quellen10 liegen, die zu dieser Vereinheitlichung
des Raumes führten, ist - über die kunstgeschichtliche Beschrei-
bung und Argumentation hinaus- noch nicht genügend bekannt.
Aus den Schriften Albertis (1485) und seiner Polemik gegen die
„mit Altären vollgestopften" Kirchen kann man indirekt ein Plai-
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Vom Lettner zum Chorgitter
Franz Ronig
Fast alle mittelalterlichen Kathedralen, Abtei- und Stiftskirchen -
auch Pfarrkirchen mit einem Kapitel - besaßen früher einen, mit-
unter sogar zwei Lettner1 - einen vor dem Ostchor, einen ande-
ren vor dem Westchor, wie man es heute noch im Naumburger
Dom sehen kann. Auch der Trierer Dom besaß einst wegen sei-
ner zwei Chöre zwei Lettner. - Der Name Lettner (mhd. Lekter)
leitet sich vom lateinischen lectorium, Lesepult ab. Im mittelalter-
lichen Latein hieß diese Einrichtung häufig pulpitum (Lesepult)
oder auch doxale (Ort, wo die Doxologien gesungen werden).
Auch in der französischen Sprache entstand der Name aus der
Funktion des Lesens: Jube leitet sich ab vom Anfangswort der
Bitte des Lektors um den Lesersegen: Jube Domne benedicere
(gib den Segen, Herr!). Im Französischen benannte man die Lett-
ner auch Tribunes, Pupitres, Lectriers und Doxales.2 Durch diese
Benennungen sind bereits wichtige Funktionen des Lettners an-
gegeben: der Vortrag der Lesungen im Stundengebet vom Lett-
ner herab, mitunter auch der Lesungen und der Predigt in der
Feier der heiligen Messe wie auch der Lobgesang.
Die Funktion des Lettners ist indessen nicht unbedingt nur
aus dem Vollzug der Liturgie abzuleiten. Eine seiner mittelalter-
lichen Ursprünge dürfte darin zu sehen sein, dass der eine große
Kirchenraum in zwei Räume, zwei Kirchen, geteilt werden sollte,
in die Mönchs- oder Stiftskirche hinter dem Lettner und in die
Pfarrkirche (oder auch den Raum der Laien) vor dem Lettner. Der
Altar der Stiftsherren (oder der Mönche) stand als der eigentli-
che Hochaltar im Raum hinter dem Lettner, der Pfarraltar jedoch
vor dem Lettner. Da der Kreuzaltar seit karolingischer Zeit meis-
tens im Zentrum einer Kirche - also vor dem Lettner - stand,
wurde der Kreuzaltar normalerweise zum Pfarraltar und oft mit
dem Lettner verbunden. Es waren also auch Gründe, die aus der
soziologischen Gliederung des Kirchenvolkes erwuchsen. Mitun-
ter war auch eine gewisse räumliche Absonderung der Kleriker-
kirche aus Gründen des Gottesdienstes gewünscht; vor allem
dann, wenn die Klosterkirche zugleich auch Wallfahrtskirche
war und die Kleriker beim Stundengebet von den vorbeiziehen-
den Wallfahrern nicht gestört werden sollten. - Morphologisch
und funktional sind die riesigen spanischen Schrankenanlagen
(Trascoro) und die griechisch-russischen Ikonostasen vom Lettner
zu unterscheiden.
Die liturgische und auch architektonische Herkunft des Lett-
ners darf historisch in der Schrankenarchitektur frühchristlicher
und frühmittelalterlicher Kirchenanlagen gesucht werden. Auch
diese hatten eine Abteilung von Laien und Klerikern, dazu auch
von Volksraum und Altarraum (was ja bei den Lettnern nicht
der Fall ist) zum Ziel. Allerdings waren sie transparenter als die
späteren Lettner. Gewöhnlich handelte es sich um Säulenstellun-
gen, die durch einen Architrav oder ein Gebälk miteinander ver-
bunden waren (templum). Zwischen den Säulen waren niedrige
Schrankenplatten oder Gitter (cancelli) eingestellt, die den Zu-
gang zwar verhinderten, den Blick über sie hinweg aber frei-
ließen. Allerdings konnte der Blick durch zwischen die Säulen
gehängte Vorhänge verhindert oder eingeschränkt werden.
Das Schließen und das Öffnen der Vorhänge hing mit der Auf-
fassung von der Feier der Mysterien zusammen (das schauervolle
Mysterium).
Die Funktionen, denen der Lettner (außer der Raumtren-
nung) diente, waren vielfältig. Um möglichst viele Funktionen zu
ermöglichen, waren Hallenlettner mit einer größeren Bühne über
den Gewölben am geeignetsten. Unter den Gewölben der zum
Hauptraum orientierten Halle, die eine dichte oder auch trans-
parent-durchbrochene Mauer als Abschluss zum Chor hin besaß,
konnten Altäre aufgestellt sein, wie das noch erhaltene Beispie-
le, Abbildungen oder auch Berichte zeigen. Der Pfarraltar rech-
nete gewöhnlich zu diesen Lettneraltären. - Auf der Bühne war
in die Balustrade oft ein Lesepult integriert, das gewöhnlich zum
Kapitelschor hin orientiert war. Mittelalterlichen liturgischen
Quellen ist zu entnehmen, dass das Evangelium der heiligen
Messe vom Lettner aus gesungen wurde. Außer den Lesungen -
auch für die Matutin - diente die Lettnerbühne ebenso für chori-
sche liturgische Gesänge (Doxale!) innerhalb der Liturgie der
Messe wie auch der Matutin, vor allem dann, wenn es sich um
eine größere Feierlichkeit handelte. Diese Praxis wird teilweise
heute noch (oder wieder) geübt. Auch bei geistlichen Konzerten
wird heutzutage der Lettner einbezogen. - Aber auch bestimmte
liturgische Handlungen fanden auf dem Lettner statt. So ist z. B.
vom Trierer Dom berichtet, dass die Segnung der Palmzweige
am Palmsonntag vom Lettner herab stattfand.3 Auch die Versöh-
nung und Lossprechung der Büßer wurde mitunter vom Lettner
her vorgenommen. - Der Lettner war dann auch der Ort, von
dem besondere Vermeidungen und Proklamationen getätigt
wurden, wie etwa eine erfolgte Bischofswahl oder wichtige an-
dere kirchliche Bekanntmachungen. - Nicht nur in England stand
auf dem Lettner vielfach eine (kleinere, später auch ein große)
Orgel, die der Begleitung des Chorgesanges im Mönchschor
oder im Kapitel diente. - Auch die Reliquienweisung konnte vom
Lettner aus vorgenommen werden; so waren die Reliquien für
eine große Menge Menschen zu sehen und zugleich gegen einen
Zugriff gesichert.
Im Gefolge der durch das Konzil von Trient (1545-1563)
eingeleiteten Liturgiereform - die eigentlich nur einigen mittel-
alterlichen Wildwuchs beschnitt - wurden die Lettner mehr und
mehr als störend empfunden - und dies, obwohl die Konzilstexte
und die nachfolgenden Dokumente nichts darüber aussagten.4
Auch die moderne kirchenhistorische Literatur, die sich mit den
liturgischen Wandlungen nach Trient beschäftigt, sagt zu der
Lettnerfrage so gut wie nichts aus - ob wir das Werk von Emile
Male (L'art religieux, 1931 )5 konsultieren oder das von Anton L.
Mayer (Liturgie und Barock, 1941)6 oder auch Georg Schreiber
(Der Barock und das Tridentinum, 1951)7. Der 6. Band des Hand-
buches der Kirchengeschichte (1967) widmet dem Thema Künste
und Literatur nur zwei Seiten8, obwohl Hubert Jedin bereits
1963 fast die gesamte Literatur zu diesem Thema aufgearbeitet
hatte9, aber wiederum ohne den Lettner. - Diese Enthaltsamkeit
liegt wohl daran, dass sich die Abhandlungen fast nur mit den
Bildkünsten und der Wortkunst befassen.
Betrachtet man jedoch die nachmittelalterlichen Kirchen-
bauten, die als „Initialzündungen" der damaligen Moderne
zu werten sind - wie etwa den Gesü in Rom (1568) oder auch
St. Michael in München (1583) und beider reiche Nachfolge im
weitesten Sinne - so wird klar, dass man keine Lettner oder
höhere Chorschranken mehr brauchte, nicht mehr baute und
auch nicht mehr haben wollte. Natürlich hatten die großen Kir-
chen der Renaissance in diesem Sinne vorgearbeitet. Wo genau
die geistigen Quellen10 liegen, die zu dieser Vereinheitlichung
des Raumes führten, ist - über die kunstgeschichtliche Beschrei-
bung und Argumentation hinaus- noch nicht genügend bekannt.
Aus den Schriften Albertis (1485) und seiner Polemik gegen die
„mit Altären vollgestopften" Kirchen kann man indirekt ein Plai-
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