Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Farbige Eisengitter der Barockzeit — Hameln: Niemeyer, Heft 27.2002

DOI Heft:
Der Innenraum des Osnabrücker Domes im 17. Jahrhundert anhand der schriftlichen Quellen
DOI Artikel:
Pieper, Roland: Anmerkungen zu liturgischer Funktion und baulicher Entwicklung von Chorabschrankungen
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.52522#0049
Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das Chorgitter des Osnabrücker Domes - Geschichte, Funktion, Beziehungen

Anmerkungen zu liturgischer Funktion und baulicher
Entwicklung von Chorabschrankungen
Roland Pieper

Vordergründig betrachtet ist es nur ein Wahrnehmungsproblem:
Unser Sehen, vor allem unser Empfinden mittelalterlicher Sakral-
räume ist geprägt von einem durchgängigen, ungeteilten und in
allen Bereichen einsehbaren Raum, von der Raumeinheit. Für
diejenigen Kirchen in Mitteleuropa, an denen männliche Kleri-
kergemeinschaften tätig waren - Kathedral-, Stifts-, Kloster-
sowie Pfarrkirchen mit einer großen Kommunität von Vikaren -,
ist dieses Bild jedoch verzerrt. Von Ausnahmen einmal abgese-
hen, fehlt diesen mittelalterlichen Kirchen ein für ihre Raumwir-
kung entscheidendes Ausstattungsstück - fast ist man geneigt
zu sagen: Bauteil -, nämlich der Lettner1. Im Folgenden soll der
Versuch unternommen werden, der Entwicklung und Ausprä-
gung von Lettnertypen im Verhältnis von sich wandelnden, litur-
gieabhängigen Aufgaben und Funktionen der Kirchenräume
nachzugehen2; daher werden die vielfältigen ikonographischen
Programme und ihre stilistische Einordnung hinter formalen
Fragen zurückstehen. Der geographische Schwerpunkt soll im
westfälisch-niedersächsischen Raum liegen, eine inventarartige
Vollständigkeit ist nicht intendiert.
Die funktionsspezifische Ausprägung
von Chorschrankentypen
Der Lettner bildete eine massive und mit einer begehbaren Platt-
form versehene Schranke zwischen dem allgemein zugänglichen
Kirchenschiff und dem Chor, dem durch die Abschrankung defi-
nierten und für Laien tabuisierten Bereich der Klerikergemein-
schaft3. Eine wichtige Funktion des Lettners ist durch den Namen
bereits angedeutet: Von der Plattform aus erfolgten die Lesun-
gen der Epistel und der Evangelien. Nur eine mindere Form ist
daher die einfache, wandartige Chorschranke, wie sie besonders
in Kirchen der Zisterzienser (Haina4, Abb. 1), aber auch in Stifts-
kirchen (Bielefeld, Neustädter Marienkirche5) zu finden ist; eine
Mischform stellt dagegen der „Lettner mit rückwärtigem Mittel-
podest" in der Elisabethkirche in Marburg dar6. Ihr ist aber
ebenso zu eigen, was alle „echten" Lettner auszeichnet, näm-
lich die Installation einer Deesisgruppe über und die Aufstellung
des Hauptaltars des Laienraumes (Kreuzaltar) westlich vor dem
Lettner.
Der Lettner als Hauptstück eines Ensembles ist damit der
multifunktionale Einbau eines mittelalterlichen Kirchenraumes;
die Vielfalt der Aufgaben, die er übernehmen konnte, bestim-
men insbesondere die Bautypen. Am Anfang der Entwicklung
steht der sog. Kryptenlettner, der vorwiegend in Kathedral- und
besonders Stiftskirchen vorkommt: Die westliche Abschlusswand
einer offenen, oft die Vierung einschließenden Krypta wird büh-
nenartig gestaltet. Prominentestes Beispiel ist der Naumburger
Ostlettner7, ein frühes und zugleich beeindruckendes Beispiel in
Westfalen bildete der Kryptenlettner der Stiftskirche St. Patroklus
in Soest8. Zwar bleibt die Bauform überwiegend auf die Zeit bis
um 1230/40 beschränkt, doch hat sich in der ehemaligen Fran-
ziskaner-Minoritenkirche St. Katharinen in Lübeck auch ein -
ganz untypisches - Beispiel aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhun-
derts erhalten9. Ganz wesentlich zur Entwicklung und Verbrei-
tung des Lettners haben die Bettelorden beigetragen, obwohl
gerade sie die Predigt vom Messritus abkoppeln und weit in den
Laienraum hinein verlegen; die Kanzel, oft aus Holz und bei


1 Haina, ehemalige Zisterzienser-Klosterkirche, Chorschranke von Südwest.

großen Menschenansammlungen auch auf den Kirchhof zu
transportieren, steht etwa in der Mitte des Laienraums vor einem
Pfeiler oder - bei Saalbauten oder zweischiffig-asymmetrischen
Kirchen - an einer Seitenwand10. Dafür wird ein Teil der Altäre
auf den Lettner konzentriert, wodurch der freistehende Hallen-
lettner entsteht: Eine Reihung von Gewölbekompartimenten,
zum Chor geschlossen und mit einer oder zwei Türen versehen,
aber zum Laienraum in Bögen geöffnet; die Altäre stehen - ähn-
lich einem Ziborium - im Lettner und auf der Plattform. Eines
der eindrucksvollsten Beispiele bildete der durch alle drei Schiffe
gezogene Lettner der ehemaligen Franziskaner-Minoritenkirche
in Soest (heute evangelische Kirche Neu-St.-Thomae), von des-
sen vermutlich neun Jochen je zwei in den Seitenschiffen stan-
den (Abb. 2)11. Man kann davon ausgehen, dass jede größere
mittelalterliche Bettelordenskirche einen Lettner besaß; zu den
erhaltenen Beispielen gehören die Dominikanerkirche (Prediger)
in Erfurt (1410, Abb. 3), die Franziskanerkirche in Eßlingen12 und
Rothenburg ob der Tauber13 sowie die Augustinerkirche in Hir-
zenhain/Hessen (1430/40)14, um nur einige zu nennen. Jüngst
kommen archäologisch oder durch Schriftquellen nachweisbare
Lettner in Bettelordenskirchen hinzu15. Allen gemeinsam ist bzw.
war der gerade durch die Schiffe gezogene und begehbare Lett-
ner, da Querhäuser fehlen. Dabei können die Einzeljoche des
Lettners zu kleinen Kapellen abgeteilt sein oder auch einen
Gang bilden; der gerade in Westfalen und im nördlichen Nieder-

47
 
Annotationen