Detlef Schmiechen-Ackermann
Inszenierte „Volksgemeinschaft":
Das Beispiel der Reichserntedankfeste am Bückeberg 1933-1937
11
lende Debatte über die Gestapo, die sich - entgegen
einer zuvor weit verbreiteten Einschätzung und einem
gern benutzten Entlastungsargument - als überhaupt
nicht allmächtig und omnipräsent, sondern als perso-
nell eher schlecht ausgerüstet und bisweilen überfor-
dert erwies.8 Im Kontext dieser Debatte richtete sich
das Augenmerk nun verstärkt auch auf die Denunzia-
tionsbereitschaft in Teilen der deutschen Bevölke-
rung.9 Schließlich sprach Robert Gellateley - etwas
überpointiert - davon, im nationalsozialistischen
Deutschland habe sich eine „selbstüberwachende Ge-
sellschaft" ausgebildet.10
Eine richtungweisende Tendenz der NS-Forschung der
letzten zehn Jahre ist die Frage nach dem Konsens-
potential, nach der integrativen Kraft des Regimes
oder - prägnanter formuliert - nach dem Charakter
des NS-Staates als „Zustimmungsdiktatur"" oder gar,
wie Götz Aly behauptet hat, als „Gefälligkeitsdikta-
tur" bzw. „Volksstaat".12 Festzuhalten ist zum aktuel-
len Stand dieser Debatte: Nach wie vor wird kontro-
vers diskutiert, welche Motive, Interessen und
Dispositionen die Menschen in der damaligen Zeit
zum freiwilligen „Mitmachen" bewegten. Theoreti-
scher und mit Max Weber formuliert: Welche konkre-
ten Anknüpfungspunkte waren es, die dem Regime in
Teilen der Bevölkerung eine charismatische Herr-
schaftslegitimation sicherten?
Faktoren für „Zustimmung" zum NS-Regime
Zur Erklärung der Zustimmungsbereitschaft gibt es
mehrere Hypothesen, die in Konkurrenz zueinander
stehen und jeweils eine möglichst hohe Geltungskraft
für sich beanspruchen. Selten ist allerdings ein einzi-
ger Faktor so prominent in den Vordergrund gerückt
worden wie bei Götz Alys meinungsstarker, aber
empirisch nicht überzeugend belegter „Volksstaat"-
These, die darauf hinausläuft, dass die große
Mehrheit einer leicht korrumpierbaren deutschen
Bevölkerung soziale Wohltaten für sich gegen die
Zustimmung und das Wegschauen bei der Aus-
grenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden
gleichsam als „Nutznießer" eingetauscht habe.13 In
diametralem Gegensatz hierzu stehen einige ältere
Deutungen, in denen Hitler als dämonischer Verführer
und das deutsche Volk somit eher als Opfer eines poli-
tischen Betrugs erscheinen.14 Bei nüchterner Abwä-
gung der empirischen Befunde ergibt sich, dass kein
monokausaler Erklärungsansatz der komplexen Rea-
lität des „Dritten Reiches" gerecht werden kann und
sich eine adäquate Analyse der Zustimmungsbereit-
schaft folglich auf mehrere, sich ergänzende Bedin-
gungsfaktoren stützen muss. Die aktuelle Debatte
dreht sich also weniger darum, ob einzelne Faktoren
überhaupt eine Rolle spielten, sondern wie groß ihre
jeweilige Bedeutung in Relation zu den anderen Ein-
flussfaktoren einzuschätzen ist. Zu diskutieren sind im
Folgenden fünf Faktoren:
Übereinstimmungen von politischen Ansichten
und Überzeugungen zwischen Regime und
Bevölkerung oder, auf ein knappes Stichwort
gebracht: ideologische Affinitäten,
Überredung und Verführung durch eine Propa-
ganda, deren Leitbild die populäre Parole der
„Volksgemeinschaft" darstellte - oder: persuasi-
ve Vereinnahmung,
Überwältigung durch ein auf der Gefühlsebene
ansetzendes rauschhaftes Erleben, das durch
eine gezielte „Emotionspolitik" hergestellt wird
- oder: affektive Vereinnahmung,
tatsächliche Gewährung von Sozialleistungen
und materiellen Vorteilen für die „arischen"
Volksgenossen, die durch soziale Wohltaten für
das Regime eingenommen werden - oder:
materielle Verlockungen,
das Versprechen künftiger Konsumbefriedigung,
und zwar speziell auf dem Gebiet des sich
ausweitenden Tourismus und der Volksmotori-
sierung - oder: soziale Verheißungen.
Ideologische Affinitäten
Eine besonders ins Auge stechende Fähigkeit natio-
nalsozialistischer Politik und Propaganda war es, in
der deutschen Gesellschaft bereits vorhandene Stim-
mungen und Einstellungen aufzunehmen, diese zu
radikalisieren und im Sinne der eigenen Zielsetzungen
effektiv zu bündeln bzw. zu instrumentalisieren.
Nationalistisches Gedankengut war in der politisch
gespaltenen und polarisierten Gesellschaft der Wei-
marer Republik weit verbreitet gewesen. Wie differen-
zierte Wahlanalysen belegen, gelang es der NSDAP,
sich im Zuge eines längeren Prozesses schließlich als
führende Milieupartei des nationalen Wählerlagers zu
profilieren.15 Zahlreiche konservative Wähler interpre-
tierten und begrüßten den politischen Umbruch des
Jahres 1933 als „nationale Erhebung" und erfassten
nicht den viel weitergehenden totalitären Machtan-
spruch der Nationalsozialisten.16 Nach der Machtüber-
nahme sorgte die aggressive und zunächst anschei-
nend erfolgreiche Außenpolitik Hitlers für eine stei-
gende Popularität des Regimes, und zwar bis hinein in
die vorher distanzierten Sozialmilieus des Katholizis-
mus und der sozialistischen Arbeiterschaft.17 Für die
bereits seit dem Kaiserreich in Deutschland stärker
hervortretenden antisemitischen Kreise und Organisa-
tionen war die NSDAP ohnehin schon in den Wei-
marer Jahren zur bevorzugten politischen Projektions-
fläche geworden.18 Insgesamt bildeten somit auch für
erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung, die 1933
nicht zu den Funktionären oder Aktivisten der NS-
Bewegung zählten, übereinstimmende oder zumin-
dest partiell ähnliche Ansichten und Präferenzen in
wichtigen politischen Fragen einen ersten substantiel-
Inszenierte „Volksgemeinschaft":
Das Beispiel der Reichserntedankfeste am Bückeberg 1933-1937
11
lende Debatte über die Gestapo, die sich - entgegen
einer zuvor weit verbreiteten Einschätzung und einem
gern benutzten Entlastungsargument - als überhaupt
nicht allmächtig und omnipräsent, sondern als perso-
nell eher schlecht ausgerüstet und bisweilen überfor-
dert erwies.8 Im Kontext dieser Debatte richtete sich
das Augenmerk nun verstärkt auch auf die Denunzia-
tionsbereitschaft in Teilen der deutschen Bevölke-
rung.9 Schließlich sprach Robert Gellateley - etwas
überpointiert - davon, im nationalsozialistischen
Deutschland habe sich eine „selbstüberwachende Ge-
sellschaft" ausgebildet.10
Eine richtungweisende Tendenz der NS-Forschung der
letzten zehn Jahre ist die Frage nach dem Konsens-
potential, nach der integrativen Kraft des Regimes
oder - prägnanter formuliert - nach dem Charakter
des NS-Staates als „Zustimmungsdiktatur"" oder gar,
wie Götz Aly behauptet hat, als „Gefälligkeitsdikta-
tur" bzw. „Volksstaat".12 Festzuhalten ist zum aktuel-
len Stand dieser Debatte: Nach wie vor wird kontro-
vers diskutiert, welche Motive, Interessen und
Dispositionen die Menschen in der damaligen Zeit
zum freiwilligen „Mitmachen" bewegten. Theoreti-
scher und mit Max Weber formuliert: Welche konkre-
ten Anknüpfungspunkte waren es, die dem Regime in
Teilen der Bevölkerung eine charismatische Herr-
schaftslegitimation sicherten?
Faktoren für „Zustimmung" zum NS-Regime
Zur Erklärung der Zustimmungsbereitschaft gibt es
mehrere Hypothesen, die in Konkurrenz zueinander
stehen und jeweils eine möglichst hohe Geltungskraft
für sich beanspruchen. Selten ist allerdings ein einzi-
ger Faktor so prominent in den Vordergrund gerückt
worden wie bei Götz Alys meinungsstarker, aber
empirisch nicht überzeugend belegter „Volksstaat"-
These, die darauf hinausläuft, dass die große
Mehrheit einer leicht korrumpierbaren deutschen
Bevölkerung soziale Wohltaten für sich gegen die
Zustimmung und das Wegschauen bei der Aus-
grenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden
gleichsam als „Nutznießer" eingetauscht habe.13 In
diametralem Gegensatz hierzu stehen einige ältere
Deutungen, in denen Hitler als dämonischer Verführer
und das deutsche Volk somit eher als Opfer eines poli-
tischen Betrugs erscheinen.14 Bei nüchterner Abwä-
gung der empirischen Befunde ergibt sich, dass kein
monokausaler Erklärungsansatz der komplexen Rea-
lität des „Dritten Reiches" gerecht werden kann und
sich eine adäquate Analyse der Zustimmungsbereit-
schaft folglich auf mehrere, sich ergänzende Bedin-
gungsfaktoren stützen muss. Die aktuelle Debatte
dreht sich also weniger darum, ob einzelne Faktoren
überhaupt eine Rolle spielten, sondern wie groß ihre
jeweilige Bedeutung in Relation zu den anderen Ein-
flussfaktoren einzuschätzen ist. Zu diskutieren sind im
Folgenden fünf Faktoren:
Übereinstimmungen von politischen Ansichten
und Überzeugungen zwischen Regime und
Bevölkerung oder, auf ein knappes Stichwort
gebracht: ideologische Affinitäten,
Überredung und Verführung durch eine Propa-
ganda, deren Leitbild die populäre Parole der
„Volksgemeinschaft" darstellte - oder: persuasi-
ve Vereinnahmung,
Überwältigung durch ein auf der Gefühlsebene
ansetzendes rauschhaftes Erleben, das durch
eine gezielte „Emotionspolitik" hergestellt wird
- oder: affektive Vereinnahmung,
tatsächliche Gewährung von Sozialleistungen
und materiellen Vorteilen für die „arischen"
Volksgenossen, die durch soziale Wohltaten für
das Regime eingenommen werden - oder:
materielle Verlockungen,
das Versprechen künftiger Konsumbefriedigung,
und zwar speziell auf dem Gebiet des sich
ausweitenden Tourismus und der Volksmotori-
sierung - oder: soziale Verheißungen.
Ideologische Affinitäten
Eine besonders ins Auge stechende Fähigkeit natio-
nalsozialistischer Politik und Propaganda war es, in
der deutschen Gesellschaft bereits vorhandene Stim-
mungen und Einstellungen aufzunehmen, diese zu
radikalisieren und im Sinne der eigenen Zielsetzungen
effektiv zu bündeln bzw. zu instrumentalisieren.
Nationalistisches Gedankengut war in der politisch
gespaltenen und polarisierten Gesellschaft der Wei-
marer Republik weit verbreitet gewesen. Wie differen-
zierte Wahlanalysen belegen, gelang es der NSDAP,
sich im Zuge eines längeren Prozesses schließlich als
führende Milieupartei des nationalen Wählerlagers zu
profilieren.15 Zahlreiche konservative Wähler interpre-
tierten und begrüßten den politischen Umbruch des
Jahres 1933 als „nationale Erhebung" und erfassten
nicht den viel weitergehenden totalitären Machtan-
spruch der Nationalsozialisten.16 Nach der Machtüber-
nahme sorgte die aggressive und zunächst anschei-
nend erfolgreiche Außenpolitik Hitlers für eine stei-
gende Popularität des Regimes, und zwar bis hinein in
die vorher distanzierten Sozialmilieus des Katholizis-
mus und der sozialistischen Arbeiterschaft.17 Für die
bereits seit dem Kaiserreich in Deutschland stärker
hervortretenden antisemitischen Kreise und Organisa-
tionen war die NSDAP ohnehin schon in den Wei-
marer Jahren zur bevorzugten politischen Projektions-
fläche geworden.18 Insgesamt bildeten somit auch für
erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung, die 1933
nicht zu den Funktionären oder Aktivisten der NS-
Bewegung zählten, übereinstimmende oder zumin-
dest partiell ähnliche Ansichten und Präferenzen in
wichtigen politischen Fragen einen ersten substantiel-