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Winghart, Stefan; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Die Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg bei Hameln: Diskussion über eine zentrale Stätte nationalsozialistischer Selbstinszenierung — Hameln: Niemeyer, Heft 36.2010

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Schmiechen-Ackermann, Detlef: Inszenierte „Volksgemeinschaft": das Beispiel der Reichserntedankfeste am Bückeberg 1933-1937
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https://doi.org/10.11588/diglit.51156#0017
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Detlef Schmiechen-Ackermann

Inszenierte „Volksgemeinschaft":
Das Beispiel der Reichserntedankfeste am Bückeberg 1933-1937

den über 80% aller KdF-Maßnahmen aus schlichten
Wanderungen oder Kurzfahrten von maximal drei Ta-
gen. Dennoch wird davon auszugehen sein, dass für
nicht wenige der mit „Kraft durch Freunde" Verrei-
senden, die zunächst zwar nur in geringer Dosis, aber
vielfach eben auch zum ersten Mal in den Genuss
eines kurzen und einfachen Urlaubs kamen, der
Traum einer längeren Urlaubsreise zur greifbar nahe
gerückten und daher wirkungsmächtigen sozialen
Verheißung geworden sein wird.
Zwischenbilanz
Die Debatte über den Stellenwert der fünf genannten
Faktoren ist derzeit offen und wird kontrovers
geführt. Zur Beantwortung der Frage, in welchem
Maße das facettenreiche und komplexe Deutungsan-
gebot der „Volksgemeinschaft" überhaupt das Den-
ken und Handeln der Bevölkerung beeinflusste, wer-
den vor allem empirisch gesättigte exemplarische
Fallstudien wesentliche Hinweise liefern können. Eine
Klärung der sich anschließenden Forschungsfrage, ob
das Regime „Zustimmung" am stärksten auf der Basis
ideologischer Affinitäten, persuasiver bzw. affektiver
Vereinnahmungsversuche oder aber materieller Wohl-
taten und sozialer Verheißungen herstellen konnte,
scheint ebenfalls vor allem auf der Basis von ergeb-
nisoffenen Regionalstudien möglich zu sein. Dies
kann an dieser Stelle nur skizziert, aber nicht ausge-
führt werden. In den großen Massenfesten des „Drit-
ten Reiches" spielten vor allem die drei Faktoren Ideo-
logie, Propaganda und Emotionalisierung eine zentra-
le Rolle; entsprechend stehen sie im Folgenden im
Mittelpunkt der Betrachtung. Die beiden Komplexe
der materiellen Verlockungen und der auf die Zukunft
gerichteten sozialen Verheißungen bleiben im Fol-
genden unberücksichtigt, waren aber zunächst als
konkurrierende Faktoren im Gesamtrahmen der
nationalsozialistischen Integrationspolitik zumindest
knapp zu skizzieren.
Die politischen Inszenierungen der NS-Zeit im
Überblick
Der umfangreiche Fest- und Feierkalender des „Drit-
ten Reiches" kann nach Bedeutung und Regelmäßig-
keit der einzelnen Veranstaltungen differenziert wer-
den.29 Dabei stechen die vier als „nationale Feiertage
des deutschen Volkes" bezeichneten Anlässe hervor.
Der regelmäßig am Abend des 8. November mit einer
Hitlerrede im Münchener Bürgerbräukeller und tags
darauf mit einem Marsch zur Feldherrnhalle begange-
ne „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung"
entfaltete aus diesem Quartett die geringste Wirkung,
denn er war im Grunde ein politischer Gedenktag, an
dem sich die Veteranen der Partei selbst feierten.
Zudem stand er als Partei-Feiertag eindeutig im Schat-
ten der weit aufwändigeren Reichsparteitage. Die drei
anderen kanonisierten „Feste der Nation" beschwo-

ren dagegen - dem ständischen Denken der Nationa-
listen entsprechend - den „Wehrstand", den „Arbei-
terstand" und den „Nährstand" als die drei tragen-
den Säulen der „Volksgemeinschaft".30
Besonderes taktisches Geschick bewiesen die Natio-
nalsozialisten mit der Vereinnahmung des 1. Mai. Die-
ser so emotional besetzte und stets von Konfron-
tationen begleitete traditionelle Kampftag der sozia-
listischen Arbeiterbewegung wurde vom NS-Regime
in einem genial anmutenden Schachzug 1933 erst-
mals zum offiziellen Feiertag erklärt - und zugleich als
„Nationaler Tag der Arbeit" für die eigenen politi-
schen Zwecke usurpiert. Programmatisch herausge-
hoben wurde die Ersetzung des Klassenkampf-
Gedankens durch die Vision einer vermeintlich har-
monischen „Volksgemeinschaft" jenseits von Klassen-
schranken und sozialen Hierarchien.3’ Der riesige Auf-
wand, der 1933 zur Ausgestaltung der ersten zentra-
len Maifeier auf dem Tempelhofer Feld in Berlin ge-
trieben wurde, unterstreicht eindrucksvoll, welche Be-
deutung das NS-Regime vor allem in seiner Formie-
rungsphase32 der werbenden und emotional verein-
nahmenden Ansprache an die Arbeiterschaft beimaß.
Pathetisch wurde die „Ehre der Arbeit" beschworen
und in egalisierender Rhetorik der „Arbeiter der
Faust" dem „Arbeiter der Stirn" an die Seite gestellt.
Durch diesen nationalsozialistischen Arbeiterdiskurs
wurde eine neue Form der Gemeinschaftsbildung pro-
klamiert, die sich nicht mehr auf eine Konstitution als
politische Klasse orientieren, sondern die im Zeichen
der Nation und der nationalsozialistischen „Volksge-
meinschaft" stehen sollte. In den folgenden Jahren
erfuhr der Maierfeiertag eine weitere Akzentver-
schiebung, indem er ganz allgemein zum „nationalen
Feiertag des deutschen Volkes" erklärt und damit sein
schichtenbezogener Kontext zunehmend relativiert
wurde. Politisch induzierten Metamorphosen unterlag
auch der christliche Volkstrauertag, der ursprünglich
zum Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs ins
Leben gerufen worden war. In den Vorkriegsjahren
der NS-Zeit wurde er als „Heldengedenktag" began-
gen, seit 1939 als „Tag der Wehrfreiheit". Es gab
zahllose Gedenkfeiern selbst in vielen kleineren Orten,
aber der auf den „Wehrstand" bezogene Feiertag
war nie ein Tag der großen Masseninszenierungen
wie das Reicherntedankfest.
Neben den „nationalen Feiertagen des deutschen Vol-
kes" gab es auch ein herausgehobenes Fest der Par-
tei, das alljährlich (allerdings nur bis 1938) mit eben-
falls riesigem Aufwand begangen wurde und von
herausragender Bedeutung war: die regelmäßig in
Nürnberg ausgerichteten Reichsparteitage der
NSDAP.33 Sie dauerten eine Woche und bestanden aus
einer Aneinanderreihung von Aufmärschen und
Kundgebungen. Der so genannte „Parteitag der

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