56
Peter Königfeld
Kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Kanzel
Bei Betrachtung der Kanzel fällt auf den ersten Blick
der ganz außergewöhnlich als knorriger Baum gestal-
tete Kanzelfuß auf, der auf der einen Seite kahle Äste
zeigt und auf der anderen belaubt ist. Davor stehen
rechts Johannes der Täufer, der auf den Gekreuzigten
im vierten Relief der Brustzone deutet, und links
Moses mit den Gesetzestafeln. Dieser legt seine Hand
auf die Schulter des mittig sitzenden, nur mit einem
Tuch um die Hüften bekleideten Mannes, der als vor
die Entscheidung gestellter „Mensch" zu deuten ist
(Tafel 2).62
Der Kanzelkorb ruht auf einem aus dem Baum he-
rausragenden Pfeiler mit ausladendem Blattkapitell
und breitem Sockelgesims. Wie bei nur wenigen,
besonders reich gestalteten Kanzeln anderer Meister,
in Norddeutschland allerdings nahezu singulär, sind in
der Brustzone Reliefs angebracht.63 Die fünf Tafeln in
weich-knorpeligen Ornamentrahmen zeigen von
links: „Sündenfall", „Eherne Schlange" mit „Überga-
be der Gesetzestafeln", „Mariae Verkündigung", ver-
bunden mit der „Verkündigung an die Hirten",
„Kreuzigung Christi" mit dem „Lamm Gottes mit
Kreuzfahne", schließlich „Auferstehung Christi" als
Sieg über Tod und Teufel. Auf die Ecken gesetzte
geflügelte Engelsköpfe bewirken eine deutliche
Gliederung.
An der Kanzelbrüstung trennen Doppelsäulen mit
korinthischen Kapitellen und ornamental verzierten
Schäften die hochrechteckigen Felder voneinander,
die als flache Nischen mit rustizierten Rahmen ausge-
bildet sind. Zu je zwei Paaren sind die vier Großen
Propheten auf der linken, die vier Evangelisten auf der
rechten Seite eingestellt. Schriftkartuschen am unte-
ren Abschluss der Brüstung nennen ihre Namen. Im
Unterschied zu den anderen Kanzeln ist der Salvator
mundi in das mittlere Feld zwischen die beiden
Gruppen eingefügt.
Ein breites Band mit einer Inschrift, die auf die
Bedeutung von Gottes Wort hinweist, bildet den obe-
ren Abschluss der Brüstung: Matthei 10.7 / Ihr seid es
nicht / die da reden son/dern Ewers Vaters / Geist ist
es der/durch Euch redet.
Das sechste Feld des Kanzelkorbes dient als Kanzeltür.
Von Beschlagwerkfeldern seitlich gerahmt, weist das
Mittelteil auf die Stifter hin: „Worzu guetherzige
Christen freywillig verehret ohne beschwerung des
Kirchspiels", darunter die Jahreszahl „Ano 1631",
darüber die bereits erwähnte, auf den amtierenden
Pastor verweisende Inschrift. Neben seiner Hausmarke
wird er in der Portalbekrönung nochmals genannt.64
Im Anschluss an die Brüstung präsentiert eine geson-
derte Tafel an der Westwand die Namen und ge-
schnitzten Wappen bzw. Hausmarken von 19 Stiftern
und Kirchengeschworenen. Hier hat Münstermann in
den ornamental gestalteten Unterhang sein Meister-
schild eingefügt.
Die Untersicht des Schalldeckels zeigt die übliche
Taube, die allerdings sehr dynamisch, wie im Sturz-
flug erscheint. Sie ist, was selten geschieht, mit dem
Pfingstgeschehen verbunden, das in lebhaft mitein-
ander disputierende Gruppen von je zwei Aposteln
zerlegt ist. Diese kauern, sitzen und stehen sehr ab-
wechslungsreich geformt vor verknappt angedeuteter
Architekturkulisse. Als Dreiergruppe formt Münster-
mann lediglich die Gruppe um Maria, die als einzige
einen Nimbus trägt.
Den schlichten Fries des Schalldeckels zieren Namens-
kartuschen und Wappen des Grafen Anton Günther
und vier seiner Beamten.65 Sie repräsentieren an dieser
prominenten, für die Gottesdienstbesucher gut sicht-
baren Stelle die landesherrliche Obrigkeit, die sich um
das Seelenheil der Untertanen sorgt. In diesem Zu-
sammenhang ist darauf hinzuweisen, das der Graf als
oberster Bischof sich nicht auf die Ausübung der rich-
terlichen Gewalt in der Kirche beschränkte, sondern
sich auch die bischöfliche Lehrgewalt vorbehielt.66
Darüber sind im Unterschied zu den anderen von
Münstermanns Hand erhaltenen Schalldeckeln Gie-
belfelder mit Brustbildern von sechs Kirchenvätern
angeordnet: Zu Augustinus, Hieronymus und Ambro-
sius treten Athanasius, Basilius und Cyrillus, während
Gregor der Große fehlt.
Eine Besonderheit ist auch die auf große Voluten-
spangen mit Obelisken gestellte hohe Laterne, in der
Gott Vater und Gott Sohn mit dem Kreuz einander
gegenübersitzen. Als Trinität erscheinen sie gemein-
sam mit der Taube, die zur Ausgießung des Heiligen
Geistes (in der Untersicht) hinabschwebt. Bemerkens-
wert ist, dass Münstermann für das kleine Bauwerk
die toskanische Ordnung gewählt hat. Die Verwen-
dung der Rustica über der eigentlich höher stufigen
Corinthia am Kanzelkorb muss als inhaltlich bedeu-
tungsvolle Abweichung aufgefasst werden.67
Auf der Schräge, auf der die Laterne aufruht, stehen
und sitzen Putten mit den (teilweise original erhalte-
nen, teilweise ergänzten) Leidenswerkzeugen.
Den Schalldeckel bekrönt die geflügelte Ecclesia, die
in den Händen das Modell der Rodenkirchener Kirche
trägt. Indem sie ihr Haupt ostentativ nach Westen
wendet, scheint sie auf dem rechten Bein zu balancie-
ren. Der Eindruck des Schwebens wird durch den
Sockel, auf den sie Münstermann gestellt hat, mit sei-
ner besonderen, oberhalb der Bögen des offenen
Laternendaches einschwingenden Form verstärkt.
Die Treppe führt in einem engen Bogen zum Kanzel-
korb hinauf, sodass der Prediger im Angesicht der im
Langhaus sitzenden Gemeinde zur Kanzel hinauf-
stieg. Dadurch sind auch die Darstellungen der Fünf
Sinne am Geländer für alle gut erkennbar. Münster-
mann formt die weiblichen Personifikationen mit ihren
Attributen (Hören - Auditus mit Laute und Hirsch,
Sehen - Visus mit Adler, Schmecken - Gustus mit
Peter Königfeld
Kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Kanzel
Bei Betrachtung der Kanzel fällt auf den ersten Blick
der ganz außergewöhnlich als knorriger Baum gestal-
tete Kanzelfuß auf, der auf der einen Seite kahle Äste
zeigt und auf der anderen belaubt ist. Davor stehen
rechts Johannes der Täufer, der auf den Gekreuzigten
im vierten Relief der Brustzone deutet, und links
Moses mit den Gesetzestafeln. Dieser legt seine Hand
auf die Schulter des mittig sitzenden, nur mit einem
Tuch um die Hüften bekleideten Mannes, der als vor
die Entscheidung gestellter „Mensch" zu deuten ist
(Tafel 2).62
Der Kanzelkorb ruht auf einem aus dem Baum he-
rausragenden Pfeiler mit ausladendem Blattkapitell
und breitem Sockelgesims. Wie bei nur wenigen,
besonders reich gestalteten Kanzeln anderer Meister,
in Norddeutschland allerdings nahezu singulär, sind in
der Brustzone Reliefs angebracht.63 Die fünf Tafeln in
weich-knorpeligen Ornamentrahmen zeigen von
links: „Sündenfall", „Eherne Schlange" mit „Überga-
be der Gesetzestafeln", „Mariae Verkündigung", ver-
bunden mit der „Verkündigung an die Hirten",
„Kreuzigung Christi" mit dem „Lamm Gottes mit
Kreuzfahne", schließlich „Auferstehung Christi" als
Sieg über Tod und Teufel. Auf die Ecken gesetzte
geflügelte Engelsköpfe bewirken eine deutliche
Gliederung.
An der Kanzelbrüstung trennen Doppelsäulen mit
korinthischen Kapitellen und ornamental verzierten
Schäften die hochrechteckigen Felder voneinander,
die als flache Nischen mit rustizierten Rahmen ausge-
bildet sind. Zu je zwei Paaren sind die vier Großen
Propheten auf der linken, die vier Evangelisten auf der
rechten Seite eingestellt. Schriftkartuschen am unte-
ren Abschluss der Brüstung nennen ihre Namen. Im
Unterschied zu den anderen Kanzeln ist der Salvator
mundi in das mittlere Feld zwischen die beiden
Gruppen eingefügt.
Ein breites Band mit einer Inschrift, die auf die
Bedeutung von Gottes Wort hinweist, bildet den obe-
ren Abschluss der Brüstung: Matthei 10.7 / Ihr seid es
nicht / die da reden son/dern Ewers Vaters / Geist ist
es der/durch Euch redet.
Das sechste Feld des Kanzelkorbes dient als Kanzeltür.
Von Beschlagwerkfeldern seitlich gerahmt, weist das
Mittelteil auf die Stifter hin: „Worzu guetherzige
Christen freywillig verehret ohne beschwerung des
Kirchspiels", darunter die Jahreszahl „Ano 1631",
darüber die bereits erwähnte, auf den amtierenden
Pastor verweisende Inschrift. Neben seiner Hausmarke
wird er in der Portalbekrönung nochmals genannt.64
Im Anschluss an die Brüstung präsentiert eine geson-
derte Tafel an der Westwand die Namen und ge-
schnitzten Wappen bzw. Hausmarken von 19 Stiftern
und Kirchengeschworenen. Hier hat Münstermann in
den ornamental gestalteten Unterhang sein Meister-
schild eingefügt.
Die Untersicht des Schalldeckels zeigt die übliche
Taube, die allerdings sehr dynamisch, wie im Sturz-
flug erscheint. Sie ist, was selten geschieht, mit dem
Pfingstgeschehen verbunden, das in lebhaft mitein-
ander disputierende Gruppen von je zwei Aposteln
zerlegt ist. Diese kauern, sitzen und stehen sehr ab-
wechslungsreich geformt vor verknappt angedeuteter
Architekturkulisse. Als Dreiergruppe formt Münster-
mann lediglich die Gruppe um Maria, die als einzige
einen Nimbus trägt.
Den schlichten Fries des Schalldeckels zieren Namens-
kartuschen und Wappen des Grafen Anton Günther
und vier seiner Beamten.65 Sie repräsentieren an dieser
prominenten, für die Gottesdienstbesucher gut sicht-
baren Stelle die landesherrliche Obrigkeit, die sich um
das Seelenheil der Untertanen sorgt. In diesem Zu-
sammenhang ist darauf hinzuweisen, das der Graf als
oberster Bischof sich nicht auf die Ausübung der rich-
terlichen Gewalt in der Kirche beschränkte, sondern
sich auch die bischöfliche Lehrgewalt vorbehielt.66
Darüber sind im Unterschied zu den anderen von
Münstermanns Hand erhaltenen Schalldeckeln Gie-
belfelder mit Brustbildern von sechs Kirchenvätern
angeordnet: Zu Augustinus, Hieronymus und Ambro-
sius treten Athanasius, Basilius und Cyrillus, während
Gregor der Große fehlt.
Eine Besonderheit ist auch die auf große Voluten-
spangen mit Obelisken gestellte hohe Laterne, in der
Gott Vater und Gott Sohn mit dem Kreuz einander
gegenübersitzen. Als Trinität erscheinen sie gemein-
sam mit der Taube, die zur Ausgießung des Heiligen
Geistes (in der Untersicht) hinabschwebt. Bemerkens-
wert ist, dass Münstermann für das kleine Bauwerk
die toskanische Ordnung gewählt hat. Die Verwen-
dung der Rustica über der eigentlich höher stufigen
Corinthia am Kanzelkorb muss als inhaltlich bedeu-
tungsvolle Abweichung aufgefasst werden.67
Auf der Schräge, auf der die Laterne aufruht, stehen
und sitzen Putten mit den (teilweise original erhalte-
nen, teilweise ergänzten) Leidenswerkzeugen.
Den Schalldeckel bekrönt die geflügelte Ecclesia, die
in den Händen das Modell der Rodenkirchener Kirche
trägt. Indem sie ihr Haupt ostentativ nach Westen
wendet, scheint sie auf dem rechten Bein zu balancie-
ren. Der Eindruck des Schwebens wird durch den
Sockel, auf den sie Münstermann gestellt hat, mit sei-
ner besonderen, oberhalb der Bögen des offenen
Laternendaches einschwingenden Form verstärkt.
Die Treppe führt in einem engen Bogen zum Kanzel-
korb hinauf, sodass der Prediger im Angesicht der im
Langhaus sitzenden Gemeinde zur Kanzel hinauf-
stieg. Dadurch sind auch die Darstellungen der Fünf
Sinne am Geländer für alle gut erkennbar. Münster-
mann formt die weiblichen Personifikationen mit ihren
Attributen (Hören - Auditus mit Laute und Hirsch,
Sehen - Visus mit Adler, Schmecken - Gustus mit