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Uwe Pleninger

Beobachtungen zur Werk- und Fasstechnik der Kanzel


88 Links: Albertis Punktiersysthem (Bätschmann 2000, S. 43), rechts: Carradoris Methode

(Schreiter 2008, S. 256) wie sie auch von Cellini verwendet wurde.

Alberti (1404-1472) und Benvenuto Cellini (1500—
1571) erfährt man, wie die Punktierverfahren ausge-
sehen haben. Im Gegensatz zu Cellini, einem Bild-
hauer und Bronzegießer, der praxisbezogene hand-
werkliche Anleitungen lieferte, formulierte Alberti die
theoretischen Grundlagen für die Kunst der Renais-
sance. Er entwickelte unter anderem eine Scheibe, in
deren Mittelpunkt ein drehbarer Arm befestigt war,
an dem wiederum Lote befestigt werden konnten.
Diese Scheibe, Finitorium genannt, wurde über der
Figur zentriert angebracht (Abb. 88).
So konnten die Raumpunkte oder Flächen am Modell
mittels eines Stechers und dem Winkel der Scheibe
ermittelt und auf den Block übertragen werden. Im
Unterschied dazu setzte Cellini einen quadratischen
Rahmen ein, an dem die Aufteilung der Längen ein-
gekerbt wurden. In den Kerben hingen wiederum die
Lote, an denen die Tiefenmaße mit dem Stecher ab-
genommen wurden.8
Beide Punktierverfahren haben sowohl Vor- als auch
Nachteile. So lassen sich bei dem Verfahren nach
Alberti die Punkte von einem verdrehten Modell sehr
genau übertragen. Das Übertragen von einer flachen,
aus verschiedenen Ansichten bestehenden Vorlage,
beispielsweise Zeichnungen, ist hingegen schwierig
bis unmöglich, da der „Tiefmaßstecher" schief oder
nur streifend auf die Vorlage trifft. Beim Verfahren
nach Cellini verhält es sich gerade umgekehrt: Hier

kann man aus verschiedenen Zeichnungen die Punkte
sehr gut übertragen. Wenn die Suche der Punkte hin-
gegen auf die Eckbereiche der Rahmen fällt und es
sich bei der Vorlage um ein Modell handelt, kommt
es zu einem schiefen oder streifendem Auftreffen des
„Tiefmaßstechers". Daraus resultieren Messfehler, die
dazu führen, dass man - wie der Verfasser aus eige-
ner Erfahrung weiß - zu tief markiert. Trotz dieses
Nachteils hat sich das Verfahren Cellinis durchgesetzt,
da es sich viel einfacher anwenden lässt und über-
sichtlicher ist.
Proportionssystem
Die an den Skulpturen durch das wahrscheinlich zu
tiefe Einmessen noch sichtbaren Dellen weisen darauf
hin, dass für Münstermann, wie im Übrigen auch für
seine Zeitgenossen, die aus der Antike stammenden
Proportionssysteme (Vitruv) verbindlich waren (Abb.
89, 90). Sie waren von Alberti mit europaweiter
Wirkung in der Bildenden Kunst und Architektur
publiziert worden.9 Diese Systeme gingen vom Körper
des Menschen als Maßeinheit aus und drückten seine
Teile als Quotienten dieses Ganzen aus. Auch Dürer
kannte die Schriften Albertis, da sich zu seiner Zeit
Nürnberg neben Venedig und Florenz zu einem
Zentrum der Alberti-Rezeption entwickelt hatte.10
Auch er stützte sich in seinen „Vier Büchern von
menschlicher Proportion" auf Vitruv, dessen Schema
 
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