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Die Wurzeln der Stadt
Praktischer Umgang mit archäologischen Überlieferungen in der Moderne
Thomas Will
„ Welch eine Macht für ein einfaches Haus, über einem Netz von unterirdischen Räumen erbaut zu sein."
Gaston Bachelard1
Stadtgeschichte im Boden -
Ressource oder Altlast?
In zahlreichen Städten Europas wurden in den letzten
Jahrzehnten verschüttete Stadtschichten freigelegt,
meist in Verbindung mit neuen Baumaßnahmen. Ob
es sich um antike Reste handelt, wie in Split oder
Thessaloniki, in Trier, Köln oder Regensburg, oder
um mittelalterliche und jüngere Kellerbereiche, wie
sie in den vom Krieg gezeichneten Stadtzentren von
Dresden, Leipzig und Chemnitz oder zuletzt in Lübeck
aufgedeckt wurden: diese Tiefenschichten entwickeln
mit ihrer Freilegung oft eine eindrucksvolle Präsenz
(Abb. 1a, b). Kryptische architektonische Strukturen
liegen da plötzlich inmitten der modernen Stadt, die
für ihre solcherart entblößten Wurzeln aber keinen
rechten Platz hat. Sie passen weder ins Museum noch
geben sie einen großartigen archäologischen Park
ab, wie das bei antiken Monumentalbauten der Fall
sein kann. Mit den Mitteln der Archäologie und der
Museologie allein ist diesen innerstädtischen Gra-
bungsfeldern also nicht gerecht zu werden. Ich will
deshalb einen architektonisch-urbanistischen Blick auf
den durch die Archäologie erschlossenen Untergrund
richten und danach fragen, welche Motive den
Umgang mit dem historischen Untergrund in der
modernen Stadt bestimmen und welche Formen der
Integration oder Präsentation archäologischer Reste
daraus entstanden sind.2 Wenn den verschütteten
Resten, ungeachtet ihrer materiellen Wertlosigkeit,
kulturelle Bedeutung zukommt - was bedeutet
das für ihre praktische Relevanz? Sind die Bilder
1b Entblößte Wurzeln. Altmarkt Dresden, 1995: Westseite des Kellereingangs Schreibergasse 10, Sandstein- und
Plänermauerwerk um 1300 mit jüngeren Türgewänden; Reste heute in ein Sportgeschäft integriert und begehbar.
Foto: Thomas Will.
Die Wurzeln der Stadt
Praktischer Umgang mit archäologischen Überlieferungen in der Moderne
Thomas Will
„ Welch eine Macht für ein einfaches Haus, über einem Netz von unterirdischen Räumen erbaut zu sein."
Gaston Bachelard1
Stadtgeschichte im Boden -
Ressource oder Altlast?
In zahlreichen Städten Europas wurden in den letzten
Jahrzehnten verschüttete Stadtschichten freigelegt,
meist in Verbindung mit neuen Baumaßnahmen. Ob
es sich um antike Reste handelt, wie in Split oder
Thessaloniki, in Trier, Köln oder Regensburg, oder
um mittelalterliche und jüngere Kellerbereiche, wie
sie in den vom Krieg gezeichneten Stadtzentren von
Dresden, Leipzig und Chemnitz oder zuletzt in Lübeck
aufgedeckt wurden: diese Tiefenschichten entwickeln
mit ihrer Freilegung oft eine eindrucksvolle Präsenz
(Abb. 1a, b). Kryptische architektonische Strukturen
liegen da plötzlich inmitten der modernen Stadt, die
für ihre solcherart entblößten Wurzeln aber keinen
rechten Platz hat. Sie passen weder ins Museum noch
geben sie einen großartigen archäologischen Park
ab, wie das bei antiken Monumentalbauten der Fall
sein kann. Mit den Mitteln der Archäologie und der
Museologie allein ist diesen innerstädtischen Gra-
bungsfeldern also nicht gerecht zu werden. Ich will
deshalb einen architektonisch-urbanistischen Blick auf
den durch die Archäologie erschlossenen Untergrund
richten und danach fragen, welche Motive den
Umgang mit dem historischen Untergrund in der
modernen Stadt bestimmen und welche Formen der
Integration oder Präsentation archäologischer Reste
daraus entstanden sind.2 Wenn den verschütteten
Resten, ungeachtet ihrer materiellen Wertlosigkeit,
kulturelle Bedeutung zukommt - was bedeutet
das für ihre praktische Relevanz? Sind die Bilder
1b Entblößte Wurzeln. Altmarkt Dresden, 1995: Westseite des Kellereingangs Schreibergasse 10, Sandstein- und
Plänermauerwerk um 1300 mit jüngeren Türgewänden; Reste heute in ein Sportgeschäft integriert und begehbar.
Foto: Thomas Will.