Vom Umgang mit dem musikalischen Original
Einleitende Worte zur abendlichen Cembalo-Soiree im Fürstensaal
Hans-Christian Pietsch
Der Umgang mit dem Original - eine treffendere Formel ließe
sich kaum finden, um die wechselvolle Geschichte der Pflege
alter Musik in unserem Jahrhundert zu charakterisieren.
Vom Umgang mit dem Original läßt sich nur sprechen, wenn
feststeht, was das Original ist, denn eine Diskussion des Um-
gangs setzt notwendigerweise voraus, daß man sich darüber
einig ist, womit umgegangen wird. Die auf Erkenntnis der origi-
nalen Substanz im musikalischen Bereich abzielende Arbeit ist
Aufgabe der Musikwissenschaft. Sie hat zunächst Notentexte
bereitzustellen, die den Urschriften der Komponisten entspre-
chen, also z.B. spätere Änderungen oder Ergänzungen zu er-
kennen und zu beseitigen. Das Original, das dann vorliegt, ist
aber mit den handgreiflichen Gegenständen, mit denen es die
Denkmalpflege zu tun hat, nicht ohne weiteres zu vergleichen,
weil es zunächst einmal nichts weiter ist als ein beschriebenes
oder bedrucktes Stück Papier, das als solches nur die graphi-
sche Darstellung von Gedanken enthält, die sich erst durch
ihre klangliche Realisierung als musikalisches Kunstwerk dar-
stellen und die auch nur um dieser Realisierung willen über-
haupt aufgezeichnet worden sind. Die Frage, was das Original
ist, stellt sich hier nicht nur bei den auf dem Papier stehenden
Noten, sondern auch und vor allem bei ihrer klanglichen Reali-
sierung.
Aus vielerlei Gründen, die ich jetzt nicht erörtern kann, läßt
nämlich die musikalische Notation nicht, wie etwa die graphi-
sche Darstellung eines Gebäudegrundrisses, nur eine einzige,
von vornherein und objektiv feststehende Reproduktion ihres
Inhaltes zu. Ein und derselbe Notentext kann vielmehr bei
mehreren ausübenden Musikern sehr unterschiedliche musi-
kalische Vorstellungen hervorrufen, die sie dann mit entspre-
chend unterschiedlichen Ergebnissen klanglich realisieren.
Um das in der gebotenen Kürze etwas deutlicher zu machen,
möchte ich einen nicht ganz korrekten, aber vielleicht an-
schaulichen Vergleich ziehen. Stellen Sie sich vor, daß ein in
deutscher Sprache geschriebener Text von einem Franzosen
und von einem Engländer, die beide keine Ahnung von der
deutschen Sprache haben, laut vorgelesen wird. Obwohl sie
dieselbe graphische Darstellung vor sich haben, ist das hör-
bare Ergebnis sehr unterschiedlich und in beiden Fällen keine
deutsche Sprache. Sie verbinden nämlich mit den einzelnen
Buchstaben und Buchstabenkombinationen jeweils andere
Lautvorstellungen und wissen auch nicht, auf welchen Silben
die Worte zu betonen sind. Jedoch ist ihre jeweilige Ausspra-
che nicht absolut, sondern nur relativ - bezogen auf deutsche
Lautvorstellungen - falsch; hinsichtlich der Anforderungen
ihrer eigenen Sprache ist sie richtig. So wie mit den gleichen
Buchstaben verschiedene Sprachen sowie innerhalb dersel-
ben Sprache ein Bibeltext, ein Roman oderein Zeitungsartikel
schriftlich fixiert werden, ebenso werden durch die gleichen,
seit mehreren Jahrhunderten gebräuchlichen Notenzeichen
musikalische Vorgänge ausgedrückt, die ihrer Struktur, ihren
geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bezügen nach
absolut unvergleichbar sind. Diese Unvergleichbarkeit betrifft
aber nicht nur die auf dem Papier stehende Anordnung der
Notenzeichen, sondern vor allem auch - denn es geht ja um
Musik - die Art, wie sie klanglich darzustellen sind. Originale
musikalische Substanz wird durch Authentizität des verwen-
deten Notenmaterials allein noch nicht gewährleistet. Hinzu-
treten muß vielmehr eine Ausführung, die sich an den stilisti-
schen Grundlagen der Komposition ausrichtet, indem sie ver-
sucht, sich die klanglichen Realisierungsvorstellungen ihres
Entstehungsumfeldes zu eigen zu machen.
Wie nun die durch Noten graphisch dargestellte Musik zu klin-
gen hat, um gemessen an diesem Erfordernis als „originale
Substanz“ gelten zu können, das zu ergründen ist natürlich
auch zunächst einmal Aufgabe des Musikwissenschaftlers.
Was die Musik des 18. Jahrhunderts angeht, so ist indessen
folgendes bemerkenswert: vieles, jedenfalls das Grundsätz-
liche davon, wie Notentexte im 18. Jahrhundert klanglich reali-
siert wurden, ist musikwissenschaftlich seit langem bekannt.
Auch die originalen Texte zahlreicher bedeutender und be-
kannter Kompositionen liegen seit mehreren Generationen im
wesentlichen korrekt vor. Dennoch hat sich eine diesem Wis-
sen entsprechende Art der klanglichen Realisierung erst seit
etwa 20 Jahren in einer breiteren Musikpraxis durchgesetzt
und wird auch heute noch nicht von allen ausübenden Musi-
kern als selbstverständlich angesehen. Hier genügt eben nicht
das bloße intellektuelle Wissen um die originale Substanz,
solange es sich nicht Interpreten auch als künstlerische Über-
zeugung zu eigen machen. Ein wesentlicher Grund ihrer lan-
gen Zurückhaltung ist die überragende Bedeutung der Musik
des 19. Jahrhunderts für die allgemeine Konzertpraxis und
eine in langer Tradition darauf abzielende Ausbildung. Die der
romantischen Musik angemessene Art der klanglichen Reali-
sierung hatte sich seit mehr als 100 Jahren als sozusagen all-
gemeingültige interpretationsweise durchgesetzt und ist da-
her auch auf die strukturell andersartige ältere Musik ange-
wandt worden. Sie hat das musikalische Bewußtsein vieler be-
deutender Künstler geprägt, und die Aussage, daß ihre Auffüh-
rungen der Werke von Bach, Händel oder Haydn nicht den auf-
führungspraktischen Erfordernissen dieser Musik, sondern
denen der Spätromantik entsprochen haben, darf nicht als all-
gemeines Unwerturteil mißverstanden werden.
Auf die Einzelheiten, in denen sich die historisch orientierte In-
terpretation alter Musik von der im 19. Jahrhundert entwickel-
ten unterscheidet, kann ich hier nicht eingehen. Ich möchte
lediglich noch kurz den Gesichtspunkt der Instrumente an-
sprechen.
Für die Ausführung der Musik des 18. Jahrhunderts werden
neuerdings vielfach sogenannte Originalinstrumente verwen-
det. Das beruht auf der Überzeugung, daß mit diesen Instru-
menten die strukturellen Verhältnisse der Kompositionen bes-
ser klanglich zu realisieren sind als mit Instrumenten, die zur
Ausführung späterer, insbesondere sinfonischer Musik entwic-
kelt wurden. Was das Cembalo betrifft, so war dieses Instru-
ment zwischen etwa 1780 und 1900 aus dem praktischen Mu-
sikleben gänzlich verschwunden. Seit Beginn dieses Jahrhun-
derts sind dann wieder Cembali gebaut worden, die allerdings
mit den historischen Instrumenten etwa soviel gemein hatten
wie ein neugotisches Gebäude mit einem echt gotischen. Man
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Einleitende Worte zur abendlichen Cembalo-Soiree im Fürstensaal
Hans-Christian Pietsch
Der Umgang mit dem Original - eine treffendere Formel ließe
sich kaum finden, um die wechselvolle Geschichte der Pflege
alter Musik in unserem Jahrhundert zu charakterisieren.
Vom Umgang mit dem Original läßt sich nur sprechen, wenn
feststeht, was das Original ist, denn eine Diskussion des Um-
gangs setzt notwendigerweise voraus, daß man sich darüber
einig ist, womit umgegangen wird. Die auf Erkenntnis der origi-
nalen Substanz im musikalischen Bereich abzielende Arbeit ist
Aufgabe der Musikwissenschaft. Sie hat zunächst Notentexte
bereitzustellen, die den Urschriften der Komponisten entspre-
chen, also z.B. spätere Änderungen oder Ergänzungen zu er-
kennen und zu beseitigen. Das Original, das dann vorliegt, ist
aber mit den handgreiflichen Gegenständen, mit denen es die
Denkmalpflege zu tun hat, nicht ohne weiteres zu vergleichen,
weil es zunächst einmal nichts weiter ist als ein beschriebenes
oder bedrucktes Stück Papier, das als solches nur die graphi-
sche Darstellung von Gedanken enthält, die sich erst durch
ihre klangliche Realisierung als musikalisches Kunstwerk dar-
stellen und die auch nur um dieser Realisierung willen über-
haupt aufgezeichnet worden sind. Die Frage, was das Original
ist, stellt sich hier nicht nur bei den auf dem Papier stehenden
Noten, sondern auch und vor allem bei ihrer klanglichen Reali-
sierung.
Aus vielerlei Gründen, die ich jetzt nicht erörtern kann, läßt
nämlich die musikalische Notation nicht, wie etwa die graphi-
sche Darstellung eines Gebäudegrundrisses, nur eine einzige,
von vornherein und objektiv feststehende Reproduktion ihres
Inhaltes zu. Ein und derselbe Notentext kann vielmehr bei
mehreren ausübenden Musikern sehr unterschiedliche musi-
kalische Vorstellungen hervorrufen, die sie dann mit entspre-
chend unterschiedlichen Ergebnissen klanglich realisieren.
Um das in der gebotenen Kürze etwas deutlicher zu machen,
möchte ich einen nicht ganz korrekten, aber vielleicht an-
schaulichen Vergleich ziehen. Stellen Sie sich vor, daß ein in
deutscher Sprache geschriebener Text von einem Franzosen
und von einem Engländer, die beide keine Ahnung von der
deutschen Sprache haben, laut vorgelesen wird. Obwohl sie
dieselbe graphische Darstellung vor sich haben, ist das hör-
bare Ergebnis sehr unterschiedlich und in beiden Fällen keine
deutsche Sprache. Sie verbinden nämlich mit den einzelnen
Buchstaben und Buchstabenkombinationen jeweils andere
Lautvorstellungen und wissen auch nicht, auf welchen Silben
die Worte zu betonen sind. Jedoch ist ihre jeweilige Ausspra-
che nicht absolut, sondern nur relativ - bezogen auf deutsche
Lautvorstellungen - falsch; hinsichtlich der Anforderungen
ihrer eigenen Sprache ist sie richtig. So wie mit den gleichen
Buchstaben verschiedene Sprachen sowie innerhalb dersel-
ben Sprache ein Bibeltext, ein Roman oderein Zeitungsartikel
schriftlich fixiert werden, ebenso werden durch die gleichen,
seit mehreren Jahrhunderten gebräuchlichen Notenzeichen
musikalische Vorgänge ausgedrückt, die ihrer Struktur, ihren
geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bezügen nach
absolut unvergleichbar sind. Diese Unvergleichbarkeit betrifft
aber nicht nur die auf dem Papier stehende Anordnung der
Notenzeichen, sondern vor allem auch - denn es geht ja um
Musik - die Art, wie sie klanglich darzustellen sind. Originale
musikalische Substanz wird durch Authentizität des verwen-
deten Notenmaterials allein noch nicht gewährleistet. Hinzu-
treten muß vielmehr eine Ausführung, die sich an den stilisti-
schen Grundlagen der Komposition ausrichtet, indem sie ver-
sucht, sich die klanglichen Realisierungsvorstellungen ihres
Entstehungsumfeldes zu eigen zu machen.
Wie nun die durch Noten graphisch dargestellte Musik zu klin-
gen hat, um gemessen an diesem Erfordernis als „originale
Substanz“ gelten zu können, das zu ergründen ist natürlich
auch zunächst einmal Aufgabe des Musikwissenschaftlers.
Was die Musik des 18. Jahrhunderts angeht, so ist indessen
folgendes bemerkenswert: vieles, jedenfalls das Grundsätz-
liche davon, wie Notentexte im 18. Jahrhundert klanglich reali-
siert wurden, ist musikwissenschaftlich seit langem bekannt.
Auch die originalen Texte zahlreicher bedeutender und be-
kannter Kompositionen liegen seit mehreren Generationen im
wesentlichen korrekt vor. Dennoch hat sich eine diesem Wis-
sen entsprechende Art der klanglichen Realisierung erst seit
etwa 20 Jahren in einer breiteren Musikpraxis durchgesetzt
und wird auch heute noch nicht von allen ausübenden Musi-
kern als selbstverständlich angesehen. Hier genügt eben nicht
das bloße intellektuelle Wissen um die originale Substanz,
solange es sich nicht Interpreten auch als künstlerische Über-
zeugung zu eigen machen. Ein wesentlicher Grund ihrer lan-
gen Zurückhaltung ist die überragende Bedeutung der Musik
des 19. Jahrhunderts für die allgemeine Konzertpraxis und
eine in langer Tradition darauf abzielende Ausbildung. Die der
romantischen Musik angemessene Art der klanglichen Reali-
sierung hatte sich seit mehr als 100 Jahren als sozusagen all-
gemeingültige interpretationsweise durchgesetzt und ist da-
her auch auf die strukturell andersartige ältere Musik ange-
wandt worden. Sie hat das musikalische Bewußtsein vieler be-
deutender Künstler geprägt, und die Aussage, daß ihre Auffüh-
rungen der Werke von Bach, Händel oder Haydn nicht den auf-
führungspraktischen Erfordernissen dieser Musik, sondern
denen der Spätromantik entsprochen haben, darf nicht als all-
gemeines Unwerturteil mißverstanden werden.
Auf die Einzelheiten, in denen sich die historisch orientierte In-
terpretation alter Musik von der im 19. Jahrhundert entwickel-
ten unterscheidet, kann ich hier nicht eingehen. Ich möchte
lediglich noch kurz den Gesichtspunkt der Instrumente an-
sprechen.
Für die Ausführung der Musik des 18. Jahrhunderts werden
neuerdings vielfach sogenannte Originalinstrumente verwen-
det. Das beruht auf der Überzeugung, daß mit diesen Instru-
menten die strukturellen Verhältnisse der Kompositionen bes-
ser klanglich zu realisieren sind als mit Instrumenten, die zur
Ausführung späterer, insbesondere sinfonischer Musik entwic-
kelt wurden. Was das Cembalo betrifft, so war dieses Instru-
ment zwischen etwa 1780 und 1900 aus dem praktischen Mu-
sikleben gänzlich verschwunden. Seit Beginn dieses Jahrhun-
derts sind dann wieder Cembali gebaut worden, die allerdings
mit den historischen Instrumenten etwa soviel gemein hatten
wie ein neugotisches Gebäude mit einem echt gotischen. Man
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