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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Umgang mit dem Original — Hannover: Niedersächsisches Landesverwaltungsamt, Heft 7.1988

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Exkursionsberichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.51140#0125
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Exkursionsberichte

Besichtigung des Turmes der St. Johanniskirche

Gottfried Kiesow

„Die Turmbesteigung zeigte in ziemlich erschütternder Weise
das, was vor nunmehr 15 Jahren in bester Absicht, aber mit
katastrophalen Folgen hier geschehen ist. Das Ziel dieser gan-
zen statischen Maßnahme war zunächst die Rettung des
Dachstuhls, dieses riesigen Turmhelms, der erheblichem
Winddruck ausgesetzt ist und sicher auch Verformungen
zeigte. Dieses Ziel wurde angesteuert durch den Einbau einer
Stahlhilfskonstruktion. Da diese erhebliche Lasten brachte,
hat man sich natürlich gesagt, daß man dazu den eigentlichen
backsteinernen Turmkörper nun statisch verbessern müsse
und hat also diesen Riesenaufwand mit dem Verpressen und
mit den eingebauten Betonringankern betrieben. Wie Sie aus
dem Referat von Herrn Werner bereits gehört hatten, sind
dann durch den gipshaltigen Mörtel und durch den sulfathalti-
gen Zement diese Treibmineralien entstanden, die das Ganze
zur gefährlichen Rissebildung und Schalenabsprengung ge-
führt haben und nun nach 15 Jahren erneut eine umfängliche
Restaurierung nötig machen. Die Besichtigung im Innern des
Turmhelms zeigte ferner, daß auch das denkmalpflegerische
Ziel nicht erreicht worden ist. Dieser stählerne Dachstuhl ist
derart wirr, daß er einerseits die historische Konstruktion völlig
verunklärt, zum anderen sind, um ihn einbringen zu können,
derart stark Teile herausgeschnitten worden, daß ersieh selbst
auch gar nicht mehr trägt. Man steht hier wirklich erschüttert
vor etwas, das leider keinen Einzelfall darstellt. Wir können nun
aus diesen katastrophalen Erfahrungen nur möglichst viel ler-
nen. Es wäre also falsch zu sagen: derartiges ist bei uns nicht
passiert.
Ausgepreßt verdeckte Betonringanker sind überall eingebaut
worden, und ich erinnere mich noch daran, daß ich aus einer
gesunden Skepsis heraus seinerzeit einer Vorspannung der
Einheitsbasilika in Michelstadt, wie sie Prof. Wenzel vorschlug,
nicht zugestimmt habe. Diese Maßnahme hätte starke Ein-
griffe, wie z.B. vertikales Durchbohren des Mauerwerks und
Einführung von Spannstählen erfordert. Zum Glück sagte ich
damals: .Also Innovationen bitte nicht gleich an der Inkunabel
der Baukunst vornehmen'. Was wäre das heute für ein Ergeb-
nis, wenn wir das gemacht hätten.
Wenn ich aber andererseits an die Diskussion um den Fritzlarer
Dom denke, an die Schwierigkeit, den Statiker davon abzuhal-
ten, den spätgotischen Dachstuhl abzunehmen und unter Ver-
wendung einzelner Hölzer wieder aufzubauen, bin ich zu dem
Entschluß gekommen, jedem nachdrücklich das zu empfeh-
len, was wir bei der Einheitsbasilika schon gemacht haben:
Nicht nur bei gravierenden statischen Problemen, sondern
auch bei Fragen der Steinkonservierung sollte man das gute
alte Mittel des Wettbewerbs, das wir aus dem Städtebau und
der Architektur kennen, nun auch auf die Fachleute anwen-
den. Man sollte sich nicht von Anfang an einen einzelnen Stati-
ker nehmen, sondern gleich - unter Honorierung - ein kleines
Gutachterverfahren, wie man das nach der GRW nennen
kann, mit vier oder fünf Statikern veranstalten. Dann ist es
nämlich auch für uns leichter, die Forderung von Herrn Mörsch
zu erfüllen, sich selbst sachkundig zu machen. In der Diskus-
sion untereinander kann man dann erörtern, wo die Schwach-
punkte der einzelnen Vorschläge liegen. Dies praktizierten wir
bei der Einheitsbasilika seinerzeit mit gutem Erfolg, denn wir

haben nachher etwas ganz Konventionelles gemacht: wir stell-
ten das alte statische System auf ganz konventionelle Weise
wieder her und es ist reversibel. Reversibilität ist gerade im sta-
tischen Bereich unsere wichtigste Forderung: Reversibilität
und Kontrolle.
Alles Verdeckte, was nicht kontrollierbar ist, müssen wir ableh-
nen, dann können wir so etwas hinterfragen. Das sollte man
eigentlich auch bei der Steinkonservierung tun, und es ist von
den Restauratoren bereits mit Erfolg durchgeführt worden. Ich
denke z. B. an den Englischen Gruß in Nürnberg und was alles
einmal in Form solcher Gutachterverfahren gemacht wurde.
Wir sollten das vielleicht noch öfter tun und unseren über-
geordneten Dienststellen einmal klarmachen, daß die Gelder,
die für solche Verfahren angewandt werden, hervorragend gut
angelegte Gelder sind. Wer das nicht glaubt, den schickt man
dann auf den Johanniskirchturm. Dort wird er dann zugeben
müssen, daß man sich die hohen finanziellen Aufwendungen
hätte sparen können, wenn man seinerzeit... - aber leider muß
man wohl offensichtlich immer erst Katastrophen erleben, bis
man einsichtig wird. Wir sollten nie aufhören, skeptisch zu
sein, wir sollten nie aufhören, uns unsicher zu fühlen.“
Bezugnehmend auf diesen Bericht machte B o e c k darauf
aufmerksam, daß trotz des eingetretenen Schadens doch ein
wesentlicher Punkt hervorgehoben werden sollte: Der Johan-
niskirchturm wurde nicht mit einem Turmhelm versehen, wie er
in Lübeck in mehrfacher Form ausgeführt wurde, sondern die
Zimmermannskonstruktion - eine der bedeutendsten, die sich
in Niedersachsen und darüber hinaus erhalten habe - sei,
wenn auch nicht mehr selbst tragend, noch existent. „Es war
tatsächlich ein Ding äußerster Schwierigkeit, ein System zu
entwickeln, das in das vom Zimmermann geschaffene, für sich
selbst bestehende System hineinpaßte und gleichzeitig noch
diese technische Voraussetzung der Erhaltung schuf. Das
scheint mir doch als Ergänzung wichtig zu sein, zumal man zu
der dort angewandten Technologie auch sagen muß, daß sie
tatsächlich voll beherrschbar und durchdenkbar war, im Unter-
schied ganz offensichtlich zu dem, was im Bereich der Mauer-
werksanierung geschehen ist.“
Entgegnung Kiesow: „Ja sicher, wir haben es immer mit
einem großen, einem mittleren und einem kleinen Übel zu tun
und sicherlich ist man hierzu einem mittleren Übel gekommen.
Dennoch bleibe ich bei meiner Behauptung, daß diese Arbeit
auch handwerklich nicht gut gemacht ist. Dies sage ich jetzt so
offen, denn ich gehöre zu den Menschen, die immer ehrlich
sagen, wenn es ihnen nicht gefällt. Ich sage das jetzt nicht, weil
das Objekt nun zufällig hier in Niedersachsen liegt. Wir haben
genauso Fehler gemacht. Ich sage nur: Man muß jetzt darüber
nachdenken, ob es nicht bessere Möglichkeiten gegeben
hätte, dasselbe Ziel zu erreichen. Das muß man deswegen
tun, weil wir ständig vor dieser Frage stehen, und wir werden
nächstes Jahr in Kontinuität dieser Tagung - das habe ich zu-
mindest vor-den Dachstuhl des Domes in Fritzlar anschauen.
Das Ziel, Herr Boeck, ist völlig in Ordnung und selbst, wenn der
Turm sich nicht trägt, will ich das nicht kritisieren; nur der An-
schauungswert dieses historischen Holzwerkes ist natürlich
sehr eingeschränkt.“

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