Schauwert und originale Substanz
Helmut Börsch-Supan
Die bildende Kunst hat in der letzten Zeit in erstaunlichem
Maße an Interesse gewonnen. Die Museen werden gut be-
sucht. Bedeutende Ausstellungen locken Massen an. Es gibt
einen lebhaften, ja beängstigenden Kunsttourismus. Eine Flut
von Kunstbüchern bricht über uns herein. Das Auge hat Hoch-
konjunktur. Eine Saat geht auf, und zugleich wächst die Sorge,
ob die Dinge, die man so liebt, daß man ständig ihre Gegen-
wart sucht, nicht verschlissen werden wie die Lieblingspuppe
eines unvernünftigen Kindes.
Ist dieses alles nur eine hektische Betriebsamkeit, gesteuert
von einer rücksichtslosen Industrie und gefördert von einer
kurzsichtigen, nur auf momentane Volksbeglückung oder gar
Machtdemonstration zielenden Kulturpolitik, oder ist es ech-
tes Bildungsstreben, das allmählich dazu führen könnte, daß
die Menschen das, was sie lieben, auch pflegen, um es kom-
menden Generationen zu erhalten?
Es handelt sich wohl um eine Mischung aus beidem und viel-
leicht noch aus anderem, aber die bange Frage ist, wie sich die
zerstörerischen Kräfte zu den bewahrenden verhalten.
Die ungeheure Bewegung, die da in Gang gesetzt wurde, ist
ein Teil des allgemeinen uns auferlegten Konsumzwanges.
Nicht nur die leeren Mägen müssen gefüllt werden, auch die
leere Zeit und die leeren Köpfe. Alle Leute sollen nach Möglich-
keit überall hinreisen, und dazu sollen noch möglichst viele
Kunstwerke zu Ausstellungen transportiert werden. Dafür gibt
es öffentliche Mittel. So wünschen es die Automobilindustrie,
die Straßenbauer, die Deutsche Bundesbahn, die Fluggesell-
schaften, das Hotelgewerbe, die Kunstspeditionen, ehrgeizige
Museumsdirektoren und noch mancher andere.
Diesen Wirbel, von dem viele profitieren, der Gutes und
Schlechtes bewirkt, erzeugen nur Originale oder das, was
man dafür hält. Sie allein verfügen über die magnetische Kraft,
Massen anzuziehen. Allerdings müssen sie berühmt sein oder
sich mit etwas Berühmtem verbinden lassen. Es gibt publizisti-
sche Mittel, etwas berühmt zu machen. Werbung ist bei die-
sem ganzen Treiben mit im Spiel.
Für viele Menschen ist es offenbar ein Lebensziel geworden,
möglichst viele wichtige Kulturstätten gesehen zu haben, an
vielen bedeutungsvollen Orten gewesen zu sein. Weit geringer
ist dagegen die Zahl derjenigen, die sich vorgenommen ha-
ben, die Weltliteratur kennenzulernen, die also umweltfreund-
lich in ihrem Zimmer sitzen und ein Buch nach dem anderen
lesen, wie es Kant getan hat. Man glaubt eben, ein Werk der
bildenden Kunst in buchstäblich einem Augenblick zu erfas-
sen, während die Lektüre eines Buches viel Zeit kostet. Daß in
früherer Zeit die meisten Bilder für einen lebenslangen Um-
gang mit ihnen geschaffen worden sind, ist in Vergessenheit
geraten. Die Sehgewohnheiten des Films werden auf das alte
Kunstwerk angewandt. So erscheinen die Werke der bilden-
den Kunst als der geeignete Füllstoff für eine schnellebige Zeit.
Der Kunstgenuß verbindet sich mit der Mobilität, die heute
wesentlich zur sogenannten Lebensqualität gehört.
Zudem ist das Sichtbare etwas Konkretes, während der Ge-
danke in seiner Körperlosigkeit vielen als Füllung der Köpfe
nicht so geeignet erscheint. Das ist es jedoch nicht allein, was
die Menschen von einer Sehenswürdigkeit zu anderen eilen
läßt. Wer weitgereist ist, kann mitreden und ist in einer Gesell-
schaft aufgehoben, die sich genau so verhält.
Vielleicht gibt es noch tiefere Motive. An einem historischen Ort
gestanden zu haben und einem berühmten Kunstwerk begeg-
net zu sein - der Mona Lisa oder der Nofretete nimmt der
eigenen unbedeutenden Existenz etwas von ihrer Nichtigkeit.
Das war es, was früher Pilgerströme in Bewegung gesetzt hat.
Was heute auf dem Gebiet des Kunsttourismus geschieht, hat
Ähnlichkeit damit. Die Wurzeln des Ausstellungswesens liegen
im Reliquienkult. Der Kunstbetrieb besitzt einen pseudoreligiö-
sen Charakter. Die Kirchen beklagen es, daß die Kunst zu einer
Ersatzreligion und die Museen zu Tempeln werden. Die Kölner,
die immer schon ein besonderes Gespür für Realitäten und für
den Zeitgeist hatten, haben ihren Museumsneubau ganz kon-
sequent neben den Dom gesetzt und ihn auch formal darauf
bezogen. Rembrandt und van Gogh sind Heilige, und der Mu-
seumsmann kann sich plötzlich in der Rolle eines Priesters ge-
fallen.
Die magische Macht alter Bilder verleiht Prestige, wenn man
sie besitzt oder auch nur scheinbar besitzt, wobei es mehr auf
die Würde des Alters und einen mit dem Bild zu verbindenden
Namen als auf tatsächliche künstlerische Qualität ankommt.
So ist es zu erklären, daß Regierungsmitglieder und hohe Be-
amte sich Bilder aus Museen ausleihen, um ihr Büro zu
schmücken. Ein altes Kunstwerk wird zur Demonstration politi-
scher Kultur der Gegenwart benutzt.
Auch bedeutende Kirchen ziehen vermehrt Besucher an. Es
gibt Wallfahrtsorte, wo sich die Ströme der Gläubigen und die
der Kunsttouristen vermischen. Manche Baudenkmale ver-
kraften diesen Ansturm, weil sie von Anfang an dazu bestimmt
waren, wenn auch Straßen, Parkplätze, Andenkenbuden und
Restaurants die Umgebung verschandeln. Der Kölner Dom ist
nicht durch die Mengen von Besuchern gefährdet, sondern
durch die aggressive Luft, zu denen die Autoabgase der Touri-
sten wohl nur einen kleinen Teil beitragen. Aber das Schloß
Sanssouci ist nicht errichtet worden, damit jährlich eine Million
Besucher hindurchgeschleust werden. Es läßt sich absehen,
wann solche Kunstwerke endgültig ruiniert sind. Es sind die
bedeutendsten und die kostbarsten Schloßbauten, die zu-
grunde gerichtet werden, eben weil sie kostbar sind. Das ist
es, was die Konservatoren zum Handeln auffordert.
Am wiederaufgebauten Schloß Charlottenburg, einem Bau
also, der großenteils Kopie und als Architektur robuster als das
Schloß Sanssouci ist, läßt sich gut ablesen, wie eine dauernde
Strapazierung für verschiedene Zwecke die Substanz rasch
altern läßt. Außer den Besuchern, die das Schloß nur besich-
tigen, sind es Empfänge, Konzerte und Filmaufnahmen.
Räume, die nach ihrer Wiederherstellung peinlich neu aus-
sahen, wirken jetzt angewelkt. Sie haben nicht die Patina des
Alters, die sie verschönen würde. Während in den sogenann-
ten Historischen Räumen der Besucherandrang kanalisiert
werden kann, weil die Zahl der Mitarbeiter, die hier führen,
ebenso wie die Größe der Gruppen begrenzt sind, tritt in den
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Helmut Börsch-Supan
Die bildende Kunst hat in der letzten Zeit in erstaunlichem
Maße an Interesse gewonnen. Die Museen werden gut be-
sucht. Bedeutende Ausstellungen locken Massen an. Es gibt
einen lebhaften, ja beängstigenden Kunsttourismus. Eine Flut
von Kunstbüchern bricht über uns herein. Das Auge hat Hoch-
konjunktur. Eine Saat geht auf, und zugleich wächst die Sorge,
ob die Dinge, die man so liebt, daß man ständig ihre Gegen-
wart sucht, nicht verschlissen werden wie die Lieblingspuppe
eines unvernünftigen Kindes.
Ist dieses alles nur eine hektische Betriebsamkeit, gesteuert
von einer rücksichtslosen Industrie und gefördert von einer
kurzsichtigen, nur auf momentane Volksbeglückung oder gar
Machtdemonstration zielenden Kulturpolitik, oder ist es ech-
tes Bildungsstreben, das allmählich dazu führen könnte, daß
die Menschen das, was sie lieben, auch pflegen, um es kom-
menden Generationen zu erhalten?
Es handelt sich wohl um eine Mischung aus beidem und viel-
leicht noch aus anderem, aber die bange Frage ist, wie sich die
zerstörerischen Kräfte zu den bewahrenden verhalten.
Die ungeheure Bewegung, die da in Gang gesetzt wurde, ist
ein Teil des allgemeinen uns auferlegten Konsumzwanges.
Nicht nur die leeren Mägen müssen gefüllt werden, auch die
leere Zeit und die leeren Köpfe. Alle Leute sollen nach Möglich-
keit überall hinreisen, und dazu sollen noch möglichst viele
Kunstwerke zu Ausstellungen transportiert werden. Dafür gibt
es öffentliche Mittel. So wünschen es die Automobilindustrie,
die Straßenbauer, die Deutsche Bundesbahn, die Fluggesell-
schaften, das Hotelgewerbe, die Kunstspeditionen, ehrgeizige
Museumsdirektoren und noch mancher andere.
Diesen Wirbel, von dem viele profitieren, der Gutes und
Schlechtes bewirkt, erzeugen nur Originale oder das, was
man dafür hält. Sie allein verfügen über die magnetische Kraft,
Massen anzuziehen. Allerdings müssen sie berühmt sein oder
sich mit etwas Berühmtem verbinden lassen. Es gibt publizisti-
sche Mittel, etwas berühmt zu machen. Werbung ist bei die-
sem ganzen Treiben mit im Spiel.
Für viele Menschen ist es offenbar ein Lebensziel geworden,
möglichst viele wichtige Kulturstätten gesehen zu haben, an
vielen bedeutungsvollen Orten gewesen zu sein. Weit geringer
ist dagegen die Zahl derjenigen, die sich vorgenommen ha-
ben, die Weltliteratur kennenzulernen, die also umweltfreund-
lich in ihrem Zimmer sitzen und ein Buch nach dem anderen
lesen, wie es Kant getan hat. Man glaubt eben, ein Werk der
bildenden Kunst in buchstäblich einem Augenblick zu erfas-
sen, während die Lektüre eines Buches viel Zeit kostet. Daß in
früherer Zeit die meisten Bilder für einen lebenslangen Um-
gang mit ihnen geschaffen worden sind, ist in Vergessenheit
geraten. Die Sehgewohnheiten des Films werden auf das alte
Kunstwerk angewandt. So erscheinen die Werke der bilden-
den Kunst als der geeignete Füllstoff für eine schnellebige Zeit.
Der Kunstgenuß verbindet sich mit der Mobilität, die heute
wesentlich zur sogenannten Lebensqualität gehört.
Zudem ist das Sichtbare etwas Konkretes, während der Ge-
danke in seiner Körperlosigkeit vielen als Füllung der Köpfe
nicht so geeignet erscheint. Das ist es jedoch nicht allein, was
die Menschen von einer Sehenswürdigkeit zu anderen eilen
läßt. Wer weitgereist ist, kann mitreden und ist in einer Gesell-
schaft aufgehoben, die sich genau so verhält.
Vielleicht gibt es noch tiefere Motive. An einem historischen Ort
gestanden zu haben und einem berühmten Kunstwerk begeg-
net zu sein - der Mona Lisa oder der Nofretete nimmt der
eigenen unbedeutenden Existenz etwas von ihrer Nichtigkeit.
Das war es, was früher Pilgerströme in Bewegung gesetzt hat.
Was heute auf dem Gebiet des Kunsttourismus geschieht, hat
Ähnlichkeit damit. Die Wurzeln des Ausstellungswesens liegen
im Reliquienkult. Der Kunstbetrieb besitzt einen pseudoreligiö-
sen Charakter. Die Kirchen beklagen es, daß die Kunst zu einer
Ersatzreligion und die Museen zu Tempeln werden. Die Kölner,
die immer schon ein besonderes Gespür für Realitäten und für
den Zeitgeist hatten, haben ihren Museumsneubau ganz kon-
sequent neben den Dom gesetzt und ihn auch formal darauf
bezogen. Rembrandt und van Gogh sind Heilige, und der Mu-
seumsmann kann sich plötzlich in der Rolle eines Priesters ge-
fallen.
Die magische Macht alter Bilder verleiht Prestige, wenn man
sie besitzt oder auch nur scheinbar besitzt, wobei es mehr auf
die Würde des Alters und einen mit dem Bild zu verbindenden
Namen als auf tatsächliche künstlerische Qualität ankommt.
So ist es zu erklären, daß Regierungsmitglieder und hohe Be-
amte sich Bilder aus Museen ausleihen, um ihr Büro zu
schmücken. Ein altes Kunstwerk wird zur Demonstration politi-
scher Kultur der Gegenwart benutzt.
Auch bedeutende Kirchen ziehen vermehrt Besucher an. Es
gibt Wallfahrtsorte, wo sich die Ströme der Gläubigen und die
der Kunsttouristen vermischen. Manche Baudenkmale ver-
kraften diesen Ansturm, weil sie von Anfang an dazu bestimmt
waren, wenn auch Straßen, Parkplätze, Andenkenbuden und
Restaurants die Umgebung verschandeln. Der Kölner Dom ist
nicht durch die Mengen von Besuchern gefährdet, sondern
durch die aggressive Luft, zu denen die Autoabgase der Touri-
sten wohl nur einen kleinen Teil beitragen. Aber das Schloß
Sanssouci ist nicht errichtet worden, damit jährlich eine Million
Besucher hindurchgeschleust werden. Es läßt sich absehen,
wann solche Kunstwerke endgültig ruiniert sind. Es sind die
bedeutendsten und die kostbarsten Schloßbauten, die zu-
grunde gerichtet werden, eben weil sie kostbar sind. Das ist
es, was die Konservatoren zum Handeln auffordert.
Am wiederaufgebauten Schloß Charlottenburg, einem Bau
also, der großenteils Kopie und als Architektur robuster als das
Schloß Sanssouci ist, läßt sich gut ablesen, wie eine dauernde
Strapazierung für verschiedene Zwecke die Substanz rasch
altern läßt. Außer den Besuchern, die das Schloß nur besich-
tigen, sind es Empfänge, Konzerte und Filmaufnahmen.
Räume, die nach ihrer Wiederherstellung peinlich neu aus-
sahen, wirken jetzt angewelkt. Sie haben nicht die Patina des
Alters, die sie verschönen würde. Während in den sogenann-
ten Historischen Räumen der Besucherandrang kanalisiert
werden kann, weil die Zahl der Mitarbeiter, die hier führen,
ebenso wie die Größe der Gruppen begrenzt sind, tritt in den
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