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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Umgang mit dem Original — Hannover: Niedersächsisches Landesverwaltungsamt, Heft 7.1988

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Glätzner, Volker; Koch, Fred; Wilkening, Friedrich; Löbert, Horst W.: Arbeitsgespräch: Fachhallenhaus
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https://doi.org/10.11588/diglit.51140#0080
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Arbeitsgespräch: Fachhallenhaus
Das niederdeutsche Hallenhaus: Original und Denkmalbewertung
Volker Gläntzer

Das Hallenhaus ist das traditionelle Wohn-Wirtschaftsge-
bäude der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung in Nord-
deutschland. Die ältesten Beispiele stammen noch aus dem
15. Jahrhundert, die jüngsten aus derzeit nach dem Zweiten
Weltkrieg. Sein Verbreitungsgebiet reicht von den Niederlan-
den bis Mecklenburg, von Schleswig-Holstein bis ins südliche
Westfalen. Es findet sich beim kleinsten Bauern ebenso wie
beim Vollbauern, beim Heuermann ebenso wie auf dem Guts-
hof.
Daß dieses Haus auch in den Gesichtskreis der Denkmal-
pflege gerückt ist, verdanken wir nicht einer Ausdehnung des
Denkmalbegriffes, sondern vor und neben anderem einem
Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft. Sozial-
historische Fragestellungen, strukturorientierte Betrachtungs-
weisen, als Gegenstand schließlich der Alltag der Menschen
früher traten dabei in den Vordergrund. Auf den historischen
Aspekt am Hallenhaus als Denkmal beschränke ich mich,
wenn ich einige Problemfelder nenne, die bei seiner denkmal-
pflegerischen Bewertung auftauchen und die mit der Diskus-
sion des „Original“-Begriffes im Zusammenhang stehen.
Die meisten historischen Kultur- und Sozialwissenschaften
beziehen ihr Selbstverständnis aus der Spezifik bestimmter Er-
kenntnisziele und Fragestellungen. Dagegen laufen „Objekt-
wissenschaften“ wie die Denkmalpflege leicht Gefahr, hinter
einer Verabsolutierung ihres Gegenstandes die eigentliche
Problemlage in den Hintergrund treten zu lassen. Aber es geht
bei der Erforschung des Hallenhauses nicht nur um die archi-
tektonische Form einer Antiquität, sondern um das häusliche
Leben, das Wohnen und Wirtschaften der ländlichen Bevölke-
rung. Bei seiner denkmalpflegerischen Behandlung geht es
nicht einfach darum, bestimmte Objekte zu erhalten, sondern
darum, einen Beitrag dazu zu leisten, daß sich ein Bewußtsein
bilden kann, wie bestimmte Ausschnitte der Kultur und der Le-
bensweise in unserer Vergangenheit beschaffen waren.
Bei diesem Ziel ist das Haus nur eine Quelle unter anderen mit
jeweils eigenem Erkenntniswert. Grundbücher, Bauakten,
Feuerversicherungsakten u.ä. lassen manches Detail der Bau-
geschichte genauer und vollständiger als der Bestand erken-
nen; Mobiliar, Inventarverzeichnisse und zeitgenössische Be-
schreibungen erst lassen die Geschichte des Wohnens deut-
lich werden. Gerade eine strukturorientierte, kulturhistorische
Betrachtungsweise wird auf eine Auswertung solcher Quellen
nicht verzichten können. Erst die Verknüpfung der daraus ge-
wonnenen Erkenntnisse mit denen der Bestandserfassung
wird das Wissen liefern, vor dessen Hintergrund auch die
denkmalpflegerische Einzelfallbeurteilung Präzision und Plau-
sibilität gewinnt.
In der Systematik historischer Quellen gehört das Hallenhaus
zur Gruppe der Überreste, der unwillkürlichen Überlieferung,
die in bezug auf ihre geschichtliche Information absichtslos
entstanden ist und deshalb als besonders zuverlässig gilt. Mit
Recht reklamiert daher die Denkmalpflege für ihre Objekte ein
hohes Maß an Ursprünglichkeit und Anschaulichkeit. Doch be-
sitzen beide Merkmale ein Janusgesicht.

Das „Original“, wenn man darunter in statischer Weise den
Bau in einem vergangenen Zustand versteht, ist in keinem
Falle mehr vorhanden. Nutzung und Abnutzung des Hauses
führen, im Grunde bereits sofort nach dem Neubau, in zahl-
losen Schritten zu immer neuen Veränderungen und Ausbes-
serungen in allen Bereichen. Aber auch dort, wo die kulturelle
Objektivation nicht oder nur wenig verändert erscheint, ist es
ihre Funktion, ist es auf jeden Fall das kulturelle Umfeld, dem
sie ihre Entstehung verdankte. Der rezente Befund ist ein Pro-
dukt aus zahlreichen Ungleichzeitigkeiten, aus je für sich
authentischen Spuren der Vergangenheit, die die historische
Quelle nicht verfälschen, sondern konstituieren. Schon die
quellenkritische Analyse dieser Überlieferungsgeschichte the-
matisiert den Wandel als Prozeß und als Gegenstand des
denkmalpflegerischen Interesses selbst.
Die offensichtliche Anschaulichkeit von Häusern, die Unmittel-
barkeit ihrer Wirkung verführt leicht zum Glauben, in den rezen-
ten Objekten die vergangene Kultur direkt zu fassen, die Ge-
schichte wieder lebendig werden zu lassen. Als historische
Quelle spricht das Haus jedoch nicht von selbst; es bedarf
eines erheblichen Wissens, um seine Informationen verstehen
und einordnen zu können. Es zeigt auch nicht die Vergangen-
heit, wie sie wirklich war, sondern nur die gebrochene Erinne-
rung an das Gestern. So verschwinden mit Kulturdenkmalen
keine Kulturen und Welten, die längst schon in der Vergangen-
heit ruhen, sondern - allerdings hochrangige - Erkenntnis-
und Darstellungsmöglichkeiten der vergangenen Kultur. Die
Bedeutung von Erhaltung, Zerstörung und Dokumentation
dieser Quellen kann unter diesem Aspekt vielleicht nüchterner
und rationaler diskutiert werden.
Durch jeden Eingriff der Denkmalpflege, ja selbst durch die
bloße Ausweisung als Denkmal gewinnt das Haus eine zweite
wissenschaftliche Dimension: es wird zum Medium in der Dar-
stellung von Geschichte. Für die künftige Beurteilung wird
dadurch sein Charakter als Überrest überlagert von Elementen
der Tradition. Dabei sollte der unwillkürliche Quellencharakter
nicht verdeckt werden, noch weniger darf ein durch rekonstru-
ierenden oder phantasierenden „Rückbau“ entstandener Zu-
stand sich den Charakter einer Quelle für die Zeit vor dem
Rückbau geben.
Wie die Quelle spricht auch das Medium nicht von selbst; auch
das Hallenhaus bedarf als Geschichtsdokument der werten-
den Interpretation, der Einbindung in einen fiktionalen Rahmen
der Geschichte. Alles, was dieser Aufgabe dient - wie die
Denkmaltopographie oder die Ortsanalyse nach baden-würt-
tembergischem Vorbild - bildet einen notwendigen Bestand-
teil denkmalpflegerischer Arbeit, dient nicht bloß ihrer Recht-
fertigung oder Ergänzung. Es bleibt zu prüfen, ob auch die
Denkmale selbst durch gestalterische Irritationen und Brüche
ihre Verführungskraft zur naiven Geschichtsadaption konterka-
rieren könnten.
Unter diesen allgemeinen Gesichtspunkten ist das Hallenhaus
kein denkmalpflegerischer Fall von völlig eigener Art. Seine Be-
sonderheiten lassen jedoch bestimmte Probleme aus dem Be-
reich der Quellenkritik und aus der Diskussion um den Original-

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