Wie stark den materialillusionistischen Verwandlungen der Ver-
gangenheit in breiten Bevölkerungsschichten noch immer der
üble Ruf der Täuschung und Materialunechtheit anhängt, zeig-
ten die zum Teil wütenden Reaktionen und die extreme Ableh-
nung der Rathausfassung in Celle. Man war nicht bereit, den
gesamtkulturellen Hintergund der Malereien am Celler Rat-
haus zu sehen; man vermochte nicht zu begreifen, daß es aus
Sicht der Maler des 17. Jahrhunderts gleich war, mit welchem
Material der Fassadenschmuck hergestellt wurde, daß in der
Vergangenheit alle Kunststile die Illusion als ein durchaus legiti-
mes Mittel ihrer Kunst eingesetzt haben, daß man damit in
größter Freiheit und mit relativ bescheidenen Mitteln künstleri-
sche Intentionen realisieren konnte.
Inzwischen sind die restauratorischen Arbeiten zum Abschluß
gekommen. Die umfangreichen und in ihrer Art in Niedersach-
sen allein schon äußerst seltenen Putzbereiche des 17. Jahr-
hunderts sind gesichert, die barocken Malereien freigelegt,
konserviert und in der überlieferten Öltechnik restauriert und
ergänzt worden. Damit konnte eine der interessantesten und
das Wissen um das illusionistische Wissen dieser Art in Nord-
deutschland ungemein bereichernde historische Architektur-
farbigkeit zurückgewonnen werden. Es ist wohlgemerkt nicht
die ursprüngliche Farbschicht, sondern die vierte, die wegen
besonderer technischer Bedingungen an den Fassaden frei-
gelegt werden mußte. Diese zeigt sich aber deutlich als Inter-
pretation der zweiten Schicht, die unmittelbar nach Fertigstel-
lung des Rathauskomplexes aufgetragen worden ist. Beiden
ist eigen, daß durch sie das Gebilde der reichen Steingliede-
rungen, selbst eher malerisch und schmuckhaft gedacht, auf-
genommen und fortgeführt wird.
Die Entscheidung - dies zum Schluß - fiel im übrigen nicht nur
im Druck der öffentlichen Meinung zugunsten einer Ergänzung
der zwar in umfangreichen Flächen, aber eben unvollständig
erhaltenen Barockmalerei, und nicht zugunsten der Präpara-
tion eines „denkmalpflegerischen Fragments“ etwa in italieni-
schem Sinne aus. Die ursprünglich beabsichtigte Einheit von
Form und Farbe galt es nicht nur für den Bau selbst zurückzu-
gewinnen; bisher unter seinem großen Dach eher im Stadtbild
zurücktretend, war das Rathaus in seiner historischen Rolle als
Mittelpunkt der Bürgerstadt Celle wieder zu veranschaulichen
und durch die seine Architektur im ursprünglichen Sinne deu-
tende und steigernde Fassadenmalereien als ein besonderer,
wichtiger Bau erlebbar zu machen. Diese städtebauliche Wir-
kung konnte nur durch eine Komplettierung der Farbfassung
erreicht werden.
Ausgemalt und zugestrichen
Frank T. Leusch
Anläßlich der letztjährigen Jahrestagung haben wir uns am
Beispiel des Domes zu Speyer u.a. mit dem Problem „ausge-
malt und teilweise abgewaschen“ beschäftigt.
Im Rahmen dieses Arbeitsgespräches möchte ich Ihnen nun
mehr oder weniger stichwortartig das unter dem Titel „ausge-
malt und zugestrichen“ subsumierte und erst in letzterer Zeit
aufgetretene denkmalpflegerische Problem der Renovierung
oder eben auch Restaurierung von Sakralbauten mit unter
einer Tünche vorhandenen Ausmalungen des 19. und frühen
20. Jahrhunderts vorstellen. Dabei erlaube ich mir davon aus-
zugehen, daß die Phase, in der gewünscht wurde, Ausmalun-
gen dieser Zeit - möglichst mit Zustimmung der Denkmal-
pflege-zu übertünchen, überwunden ist. Natürlich haben wir
alle-jedenfalls seit etwa 1970-dieses Übermalen für schänd-
lich gehalten und dies mehr oder weniger standfest vertreten.
Noch 1979 heißt es: „Die hohen Verluste an Denkmälern des
Historismus waren vor allem auf die geringe Wertschätzung
der Kunstwerke des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Sie
wurden nicht nach ihrem Geschichtswert, sondern vor allem
nach ihrer künstlerischen Aussage beurteilt, d.h. danach, in-
wieweit sie dem Kunstwollen der Gegenwart oder auch per-
sönlichen ästhetischen Idealen entsprachen. Zeitgebundene
Urteile und künstlerisch-ästhetische Zielvorsteilungen aber
sind einem relativ raschen Wandel unterworfen ..."
Und an anderer Stelle: „Es gehört zu den Eigentümlichkeiten
der geschichtlichen Entwicklung, daß eine Zeitepoche auf die
unmittelbar vorangegangene anfangs oft ablehnend reagiert.
Die Reaktion des 20. Jahrhunderts auf die vorangegangene
Zeit hatte besonders für die Ausstattung kirchlicher Räume
empfindliche Folgen. Reiche Ausmalungen wurden überstri-
chen oder auf wenige Elemente reduziert, Altaraufbauten ab-
montiert, viele Ausstattungsstücke ersatzlos entfernt. Dieses
Dezimierungsverfahren bedeutete nicht nur einen hohen Ver-
lust an historischer Substanz, sondern führte zudem zu einer
Verarmung der betroffenen Räume, über die bezeichnender-
weise heute niemand mehr glücklich ist, denn Ablehnung ist
eine geschichtliche Haltung, die sich selbst überlebt ,“1
Inzwischen sind die 50er und 60er Jahre selbst in die Jahre ge-
kommen und eine Fülle von Renovierungen eben jener kargen
Räume steht an.
Aus den letzten beiden Jahren ist mir kein Fall bekannt, bei
dem nicht die Forderung von Seiten der Gemeinden und wohl
auch der Denkmalpflege erhoben wurde, die alte, in der Erin-
nerung noch vage fixierbare Raumfarbigkeit wieder hervorzu-
zaubern. Dabei ist es immerhin bemerkenswert, daß sich die-
ser Gesinnungswandel konfessionsunabhängig entwickelt
hat.
Berücksichtigen wir nun die ungeheuere Anzahl von bevorste-
henden Renovierungen mit diesem Aspekt-ganz unabhängig
von der Frage, ob hier für viel Geld freigelegt oder rekonstruiert
wird - ist davon auszugehen, daß es in kurzer Zeit kaum noch
einen Sakralraum im weißen Gewand der 50er und 60er Jahre
geben wird.
War eigentlich die Einschätzung über die Behandlung der
Raumschale des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der 50er
und 60er Jahre richtig oder gar endgültig? Hat diese Ableh-
nung heute, im Abstand von 30 Jahren, noch Bestand? Ich
glaube nein. Jedenfalls in einer Vielzahl von Fällen. Ist diese Ab-
lehnung nicht auch „eine geschichtliche Haltung, die sich
selbst überlebt“ hat?
Stets war es doch so, daß große künstlerische Leistungen
Auswirkungen auf bestehende Bauten und Räume gehabt
118
gangenheit in breiten Bevölkerungsschichten noch immer der
üble Ruf der Täuschung und Materialunechtheit anhängt, zeig-
ten die zum Teil wütenden Reaktionen und die extreme Ableh-
nung der Rathausfassung in Celle. Man war nicht bereit, den
gesamtkulturellen Hintergund der Malereien am Celler Rat-
haus zu sehen; man vermochte nicht zu begreifen, daß es aus
Sicht der Maler des 17. Jahrhunderts gleich war, mit welchem
Material der Fassadenschmuck hergestellt wurde, daß in der
Vergangenheit alle Kunststile die Illusion als ein durchaus legiti-
mes Mittel ihrer Kunst eingesetzt haben, daß man damit in
größter Freiheit und mit relativ bescheidenen Mitteln künstleri-
sche Intentionen realisieren konnte.
Inzwischen sind die restauratorischen Arbeiten zum Abschluß
gekommen. Die umfangreichen und in ihrer Art in Niedersach-
sen allein schon äußerst seltenen Putzbereiche des 17. Jahr-
hunderts sind gesichert, die barocken Malereien freigelegt,
konserviert und in der überlieferten Öltechnik restauriert und
ergänzt worden. Damit konnte eine der interessantesten und
das Wissen um das illusionistische Wissen dieser Art in Nord-
deutschland ungemein bereichernde historische Architektur-
farbigkeit zurückgewonnen werden. Es ist wohlgemerkt nicht
die ursprüngliche Farbschicht, sondern die vierte, die wegen
besonderer technischer Bedingungen an den Fassaden frei-
gelegt werden mußte. Diese zeigt sich aber deutlich als Inter-
pretation der zweiten Schicht, die unmittelbar nach Fertigstel-
lung des Rathauskomplexes aufgetragen worden ist. Beiden
ist eigen, daß durch sie das Gebilde der reichen Steingliede-
rungen, selbst eher malerisch und schmuckhaft gedacht, auf-
genommen und fortgeführt wird.
Die Entscheidung - dies zum Schluß - fiel im übrigen nicht nur
im Druck der öffentlichen Meinung zugunsten einer Ergänzung
der zwar in umfangreichen Flächen, aber eben unvollständig
erhaltenen Barockmalerei, und nicht zugunsten der Präpara-
tion eines „denkmalpflegerischen Fragments“ etwa in italieni-
schem Sinne aus. Die ursprünglich beabsichtigte Einheit von
Form und Farbe galt es nicht nur für den Bau selbst zurückzu-
gewinnen; bisher unter seinem großen Dach eher im Stadtbild
zurücktretend, war das Rathaus in seiner historischen Rolle als
Mittelpunkt der Bürgerstadt Celle wieder zu veranschaulichen
und durch die seine Architektur im ursprünglichen Sinne deu-
tende und steigernde Fassadenmalereien als ein besonderer,
wichtiger Bau erlebbar zu machen. Diese städtebauliche Wir-
kung konnte nur durch eine Komplettierung der Farbfassung
erreicht werden.
Ausgemalt und zugestrichen
Frank T. Leusch
Anläßlich der letztjährigen Jahrestagung haben wir uns am
Beispiel des Domes zu Speyer u.a. mit dem Problem „ausge-
malt und teilweise abgewaschen“ beschäftigt.
Im Rahmen dieses Arbeitsgespräches möchte ich Ihnen nun
mehr oder weniger stichwortartig das unter dem Titel „ausge-
malt und zugestrichen“ subsumierte und erst in letzterer Zeit
aufgetretene denkmalpflegerische Problem der Renovierung
oder eben auch Restaurierung von Sakralbauten mit unter
einer Tünche vorhandenen Ausmalungen des 19. und frühen
20. Jahrhunderts vorstellen. Dabei erlaube ich mir davon aus-
zugehen, daß die Phase, in der gewünscht wurde, Ausmalun-
gen dieser Zeit - möglichst mit Zustimmung der Denkmal-
pflege-zu übertünchen, überwunden ist. Natürlich haben wir
alle-jedenfalls seit etwa 1970-dieses Übermalen für schänd-
lich gehalten und dies mehr oder weniger standfest vertreten.
Noch 1979 heißt es: „Die hohen Verluste an Denkmälern des
Historismus waren vor allem auf die geringe Wertschätzung
der Kunstwerke des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Sie
wurden nicht nach ihrem Geschichtswert, sondern vor allem
nach ihrer künstlerischen Aussage beurteilt, d.h. danach, in-
wieweit sie dem Kunstwollen der Gegenwart oder auch per-
sönlichen ästhetischen Idealen entsprachen. Zeitgebundene
Urteile und künstlerisch-ästhetische Zielvorsteilungen aber
sind einem relativ raschen Wandel unterworfen ..."
Und an anderer Stelle: „Es gehört zu den Eigentümlichkeiten
der geschichtlichen Entwicklung, daß eine Zeitepoche auf die
unmittelbar vorangegangene anfangs oft ablehnend reagiert.
Die Reaktion des 20. Jahrhunderts auf die vorangegangene
Zeit hatte besonders für die Ausstattung kirchlicher Räume
empfindliche Folgen. Reiche Ausmalungen wurden überstri-
chen oder auf wenige Elemente reduziert, Altaraufbauten ab-
montiert, viele Ausstattungsstücke ersatzlos entfernt. Dieses
Dezimierungsverfahren bedeutete nicht nur einen hohen Ver-
lust an historischer Substanz, sondern führte zudem zu einer
Verarmung der betroffenen Räume, über die bezeichnender-
weise heute niemand mehr glücklich ist, denn Ablehnung ist
eine geschichtliche Haltung, die sich selbst überlebt ,“1
Inzwischen sind die 50er und 60er Jahre selbst in die Jahre ge-
kommen und eine Fülle von Renovierungen eben jener kargen
Räume steht an.
Aus den letzten beiden Jahren ist mir kein Fall bekannt, bei
dem nicht die Forderung von Seiten der Gemeinden und wohl
auch der Denkmalpflege erhoben wurde, die alte, in der Erin-
nerung noch vage fixierbare Raumfarbigkeit wieder hervorzu-
zaubern. Dabei ist es immerhin bemerkenswert, daß sich die-
ser Gesinnungswandel konfessionsunabhängig entwickelt
hat.
Berücksichtigen wir nun die ungeheuere Anzahl von bevorste-
henden Renovierungen mit diesem Aspekt-ganz unabhängig
von der Frage, ob hier für viel Geld freigelegt oder rekonstruiert
wird - ist davon auszugehen, daß es in kurzer Zeit kaum noch
einen Sakralraum im weißen Gewand der 50er und 60er Jahre
geben wird.
War eigentlich die Einschätzung über die Behandlung der
Raumschale des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der 50er
und 60er Jahre richtig oder gar endgültig? Hat diese Ableh-
nung heute, im Abstand von 30 Jahren, noch Bestand? Ich
glaube nein. Jedenfalls in einer Vielzahl von Fällen. Ist diese Ab-
lehnung nicht auch „eine geschichtliche Haltung, die sich
selbst überlebt“ hat?
Stets war es doch so, daß große künstlerische Leistungen
Auswirkungen auf bestehende Bauten und Räume gehabt
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