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öffnen konnten; der Zugang zu den Hauptlogen ging durch die Obere Orangerie, also
durch das Festgebäude des Schlosses. Jeder der beiden Gesellschaftsschichten war einer
eigenen Achse des Kirchengebäudes zugeordnet. Die Stadtgemeinde saß (und sitzt) quer
zu Altar und Kanzel, also entsprechend dem sichtbaren gebauten, „öffentlichen“ Raum.
Die andere Achse bilden Kanzel und Fürstenloge; diese Achse ist nur ideell, nicht faktisch
räumlich angedeutet; ihre architektonische Gestalt in den beiden gegenüberliegenden Kon-
chen bleibt verdeckt. Sie trägt fast privaten Charakter; denn wenn der Geistliche auf der
Kanzel dem Fürsten in Augenhöhe gegenüberstand, nahm die Predigt die Form privater
Anrede an, und der im Betsessel sitzende Herrscher sah nur den Pfarrer, nicht die Ge-
meinde. Es ist das Prinzip der mittelalterlichen zweigeschossigen Burgkapellen in barocker
protestantischer Form. Innerhalb dieser beiden Achsen lagen, architektonisch bedingt,
günstige und weniger günstige Plätze, die bei Hof und Gemeinde ebenfalls rangmäßig
verteilt waren. Die „Belle Etage“ der Logen, die es hier ebenso gab wie im Schloßbau,
gehörte dem Adel, der Geistlichkeit und dem Gast. Die Bankreihen nächst dem Altar
waren für die Stadtbewohner reserviert, die Dörfler der Umgebung begnügten sicli mit
den letzten Sitzen.
Dieses Ordnungsschema, das durch die erhaltene Kirchenstuhlordnung an einem konkreten
Fall verlebendigt werden kann, galt in ähnlicher Form für viele barocke protestantische
Kirchen in Deutschland. Die Kirchenordnung spiegelte die Ständegliederung des je-
weiligen Ortes wider. Selbst kleine Gemeinden und Dörfer hatten abschließbare, ver-
gitterte Betstühle und andere bevorzugte Plätze (vgl. z. B. die Nauroder Kirchenstuhl-
ordnung 2’ 1). Die Mietgebühren der besonderen Stühle dienten der Finanzierung des Kir-
chenbaues. Die Ehrenloge der Weilburger Kirche stand daher, abgesehen von dem gesell-
schaftlichen Rang, dem Fürsten schon als dem Bauherrn zu.
Der „soziologischen Topographie“ der Weilburger Kirche entspricht das ikonographische
Programm. Denn die in Stukkaturen und Gemälden vorgetragenen Bildthemen gliedern
den Kirchenraum in drei ikonologische Zonen 3*.
Das Deckengewölbe gilt als Zone des Himmels (D 1), von dem alle religiöse Erleuchtung
(D 4 und 5) und alles Heil (D 2 und 3) ausstrahlt und von dem die Evangelisten kün-
den (D 6 bis 9).
Die Kanzelwand bezeichnet den Bereich der Yerkündigung und der Ausstrahlung der
Heilkraft Christi, gründend auf dem jüdischen Gesetz (K 2), dem Zeugnis des Vorläufers
Christi (K 3) und auf den Heilstaten Christi (K1 und 4). Die Emporenmedaillons
verherrlichen in Bild und Text Christus als den Schützer (K 5 und 7), den Retter (K 6)
und das Licht der Menschen (K 8). Die Fürstenwand verdeutlicht das Schauen und Sehnen
des selbstunsicheren Menschen nach Gott (F 2 bis 5). Die Bilder der Fürstenloge weisen
auf den Fürsten als sündigen, gottsuchenden Menschen, der durch die Sündertüre eintritt
(L 2), der vom Himmel seine Kraft empfängt (L 3) und dessen menschlich-irdische Fes-
seln Gott aufschließt (L 4 und 5); aber er hat sich und seine Macht dem Wort Gottes
verbunden (L 7, Frontierung K 1 / F 1), und ihn besonders verherrlicht und erlöst Christi
Sieg über den Tod (L 1 über dem Fürstenstuhl).
So sehr hier protestantische Thematik und Gedanken auftreten, verbunden mit der Idee
des göttlichen, absolutistischen Herrschertums, so erinnert die Aufgliederung in drei deut-
Iich trennbare ikonologische Zonen an katholische, ja an mittelalterliche Denkweise, die
2* W. Müller: Festschrift zur 200-Jahr-Feier der Kirche zu Naurod. Naurod 1930.
3* Ygl. zu den folgenden Angaben die Baubeschreibung Seite . . ., wo auch die Buchstaben und
Kennziffern erläutert sind.
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öffnen konnten; der Zugang zu den Hauptlogen ging durch die Obere Orangerie, also
durch das Festgebäude des Schlosses. Jeder der beiden Gesellschaftsschichten war einer
eigenen Achse des Kirchengebäudes zugeordnet. Die Stadtgemeinde saß (und sitzt) quer
zu Altar und Kanzel, also entsprechend dem sichtbaren gebauten, „öffentlichen“ Raum.
Die andere Achse bilden Kanzel und Fürstenloge; diese Achse ist nur ideell, nicht faktisch
räumlich angedeutet; ihre architektonische Gestalt in den beiden gegenüberliegenden Kon-
chen bleibt verdeckt. Sie trägt fast privaten Charakter; denn wenn der Geistliche auf der
Kanzel dem Fürsten in Augenhöhe gegenüberstand, nahm die Predigt die Form privater
Anrede an, und der im Betsessel sitzende Herrscher sah nur den Pfarrer, nicht die Ge-
meinde. Es ist das Prinzip der mittelalterlichen zweigeschossigen Burgkapellen in barocker
protestantischer Form. Innerhalb dieser beiden Achsen lagen, architektonisch bedingt,
günstige und weniger günstige Plätze, die bei Hof und Gemeinde ebenfalls rangmäßig
verteilt waren. Die „Belle Etage“ der Logen, die es hier ebenso gab wie im Schloßbau,
gehörte dem Adel, der Geistlichkeit und dem Gast. Die Bankreihen nächst dem Altar
waren für die Stadtbewohner reserviert, die Dörfler der Umgebung begnügten sicli mit
den letzten Sitzen.
Dieses Ordnungsschema, das durch die erhaltene Kirchenstuhlordnung an einem konkreten
Fall verlebendigt werden kann, galt in ähnlicher Form für viele barocke protestantische
Kirchen in Deutschland. Die Kirchenordnung spiegelte die Ständegliederung des je-
weiligen Ortes wider. Selbst kleine Gemeinden und Dörfer hatten abschließbare, ver-
gitterte Betstühle und andere bevorzugte Plätze (vgl. z. B. die Nauroder Kirchenstuhl-
ordnung 2’ 1). Die Mietgebühren der besonderen Stühle dienten der Finanzierung des Kir-
chenbaues. Die Ehrenloge der Weilburger Kirche stand daher, abgesehen von dem gesell-
schaftlichen Rang, dem Fürsten schon als dem Bauherrn zu.
Der „soziologischen Topographie“ der Weilburger Kirche entspricht das ikonographische
Programm. Denn die in Stukkaturen und Gemälden vorgetragenen Bildthemen gliedern
den Kirchenraum in drei ikonologische Zonen 3*.
Das Deckengewölbe gilt als Zone des Himmels (D 1), von dem alle religiöse Erleuchtung
(D 4 und 5) und alles Heil (D 2 und 3) ausstrahlt und von dem die Evangelisten kün-
den (D 6 bis 9).
Die Kanzelwand bezeichnet den Bereich der Yerkündigung und der Ausstrahlung der
Heilkraft Christi, gründend auf dem jüdischen Gesetz (K 2), dem Zeugnis des Vorläufers
Christi (K 3) und auf den Heilstaten Christi (K1 und 4). Die Emporenmedaillons
verherrlichen in Bild und Text Christus als den Schützer (K 5 und 7), den Retter (K 6)
und das Licht der Menschen (K 8). Die Fürstenwand verdeutlicht das Schauen und Sehnen
des selbstunsicheren Menschen nach Gott (F 2 bis 5). Die Bilder der Fürstenloge weisen
auf den Fürsten als sündigen, gottsuchenden Menschen, der durch die Sündertüre eintritt
(L 2), der vom Himmel seine Kraft empfängt (L 3) und dessen menschlich-irdische Fes-
seln Gott aufschließt (L 4 und 5); aber er hat sich und seine Macht dem Wort Gottes
verbunden (L 7, Frontierung K 1 / F 1), und ihn besonders verherrlicht und erlöst Christi
Sieg über den Tod (L 1 über dem Fürstenstuhl).
So sehr hier protestantische Thematik und Gedanken auftreten, verbunden mit der Idee
des göttlichen, absolutistischen Herrschertums, so erinnert die Aufgliederung in drei deut-
Iich trennbare ikonologische Zonen an katholische, ja an mittelalterliche Denkweise, die
2* W. Müller: Festschrift zur 200-Jahr-Feier der Kirche zu Naurod. Naurod 1930.
3* Ygl. zu den folgenden Angaben die Baubeschreibung Seite . . ., wo auch die Buchstaben und
Kennziffern erläutert sind.
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