Sprichwort, demzufolge in der zeitverschlafenen Residenz der Usenberger
mehr Wein als Wasser zu finden sein soll. —
Es ist Nacht, eine linde dunkle Spätsommernacht. Mit krausen
spitzgiebligen Dächerumrissen und spärlichen Lichtern liegt Endingen,
Aus den gotischen Spitzbogen des Kornkastens schimmert matt ein
wandernder Schein. Dann erhellt sich das Fenster des Torstübchens.
Dort brennt eine Lampe. Ein einsamer Greis setzt sich vor dem
altertümlichen Schreibtisch nieder, schiebt die Klappe zurück und zieht
die Platte voll von Papieren heraus. Nun nimmt er das Sammet-
mützchen vom kahlen Kopf, den nur ein dünner Kranz wolliger Härchen
am Hinterhaupt über dem Nacken umgibt. Er ist ein kleiner dürftiger
Mann in leer aussehenden aber feinen altmodischen Kleidern, der
Grethmeister Jost Balthasar Pfäfferlin; aber er ist trotzdem ein hoch-
geachteter Mann, nicht nur weil er zur Sippe des wohllöblichen Bürger-
meisters Kniebühler gehört — dessen Mutter war seine Schwester —
Jost Balthasar gilt für einen vermögenden Bürger und einen unbestech-
lich redlichen Beamten. Heute vollendet er sein achzigstes Lebensjahr,
Darum kommt ihm ganz ungerufen der Rückblick auf sein Leben. Vor
bald fünfzig Jahren ist er zum Schrannenvogt gekürt worden und damit
eingezogen in die Torstube am Kornkasten.
Er sieht sich um. Es ist ein wundervoll heimliches Gemach. Die
braungebeizte Balkendecke lastet nicht, sie schimmert nur matt. Die
Dielen des Fussbodens knarren und knacken — die Tageshitze hat sie
ausgetrocknet.
Der Lichtschein der Lampe umspielt vergilbte Holzschnitte und
kriecht in blank gebeizte Sestermaasse, die an den Wänden aufgereiht
sind. Ausrangiertes Geräte! Man wiegt das Getreide, aber Jost Balthasar
gibt nichts von dem weg, was ihm als jung gedient hat und mit ihm
alt geworden ist.
Wirklich nicht? Tritt er nichts ab?
Er besitzt ein Haus drunten in der Drachengasse — sein Urgross-
vater hat es von den Endinger Herren, die auf dem Koliberge hausten,
als Lehen bekommen und später gekauft, als das Geschlecht, von seinem
zerstörten Stammschloss vertrieben, nach Strassburg übersiedelte. Aber
trotzdem das Haus über 300 Jahre steht, ist es noch heute ein statt-
licher Bau. Einen Erker hat der Vater damals anbauen lassen, als er
die begüterte Mutter hineinführte. Und dann hat Jost Balthasar es
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mehr Wein als Wasser zu finden sein soll. —
Es ist Nacht, eine linde dunkle Spätsommernacht. Mit krausen
spitzgiebligen Dächerumrissen und spärlichen Lichtern liegt Endingen,
Aus den gotischen Spitzbogen des Kornkastens schimmert matt ein
wandernder Schein. Dann erhellt sich das Fenster des Torstübchens.
Dort brennt eine Lampe. Ein einsamer Greis setzt sich vor dem
altertümlichen Schreibtisch nieder, schiebt die Klappe zurück und zieht
die Platte voll von Papieren heraus. Nun nimmt er das Sammet-
mützchen vom kahlen Kopf, den nur ein dünner Kranz wolliger Härchen
am Hinterhaupt über dem Nacken umgibt. Er ist ein kleiner dürftiger
Mann in leer aussehenden aber feinen altmodischen Kleidern, der
Grethmeister Jost Balthasar Pfäfferlin; aber er ist trotzdem ein hoch-
geachteter Mann, nicht nur weil er zur Sippe des wohllöblichen Bürger-
meisters Kniebühler gehört — dessen Mutter war seine Schwester —
Jost Balthasar gilt für einen vermögenden Bürger und einen unbestech-
lich redlichen Beamten. Heute vollendet er sein achzigstes Lebensjahr,
Darum kommt ihm ganz ungerufen der Rückblick auf sein Leben. Vor
bald fünfzig Jahren ist er zum Schrannenvogt gekürt worden und damit
eingezogen in die Torstube am Kornkasten.
Er sieht sich um. Es ist ein wundervoll heimliches Gemach. Die
braungebeizte Balkendecke lastet nicht, sie schimmert nur matt. Die
Dielen des Fussbodens knarren und knacken — die Tageshitze hat sie
ausgetrocknet.
Der Lichtschein der Lampe umspielt vergilbte Holzschnitte und
kriecht in blank gebeizte Sestermaasse, die an den Wänden aufgereiht
sind. Ausrangiertes Geräte! Man wiegt das Getreide, aber Jost Balthasar
gibt nichts von dem weg, was ihm als jung gedient hat und mit ihm
alt geworden ist.
Wirklich nicht? Tritt er nichts ab?
Er besitzt ein Haus drunten in der Drachengasse — sein Urgross-
vater hat es von den Endinger Herren, die auf dem Koliberge hausten,
als Lehen bekommen und später gekauft, als das Geschlecht, von seinem
zerstörten Stammschloss vertrieben, nach Strassburg übersiedelte. Aber
trotzdem das Haus über 300 Jahre steht, ist es noch heute ein statt-
licher Bau. Einen Erker hat der Vater damals anbauen lassen, als er
die begüterte Mutter hineinführte. Und dann hat Jost Balthasar es
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