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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 3.1868

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Heft 9
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https://doi.org/10.11588/diglit.44083#0248
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-sN 242 <Zs-

er flößte doch keine Furcht ein; sein gutmüthi-
ges Auge und sein durchfurchtes Gesicht mit
struppigem weißen Barte, nicht minder seine
ärmlichen Kleider, erweckten das Mitleiden.
Aechzend setzte er sich mit Hülfe seines Knoten-
stocks in Bewegung. Adele konnte nicht aus-
weichen, sie mußte die Begleitung annehmen,
so lästig sie auch war. Beide wanderten weiter.
— Wollen auch Sie nach der Stadt, meine
Dame? fragte Hagenwald,
— Rein; ich will nach der Villa des Grafen
von Ravenstein.
— Liegt die Villa hier?
— Man sagte mir, daß dieser Weg zu ihr
führe.
— Ah, so sind auch Sie in dieser Gegend
fremd?
— Ich kenne nur die Fußpfade nicht genau.
— So, so! murmelte der Alte, der seine
volle Aufmerksamkeit nun auf die verschleierte
Begleiterin richtete.
Adele beschleunigte nach Kräften ihre Schritte;
der Greis hielt wacker aus, er blieb ihr stets
zur Seite. Es war doch ein mühseliger Weg
im freien Felde; nicht selten trieb ein leichter
Windstoß den Staub auf und der brennende
Fuß trat auf spitze Steine und Unebenheiten.
Aber die arme Mutter, die ihr Kind suchte,
mußte rasch weiter, wenn sie nicht am späten
Abend heimkehren wollte. Die Sonne sank
immer tiefer, ihr Licht ward schon blaß wie
mattes Gold. Hagenwald nahm nach langer
Pause das Gespräch wieder auf.
— Sie tragen tiefe Trauer, sagte er mit-
leidig.
— Ach ja!
— So haben Sie einen schweren Verlust
erlitten ...
Adele antwortete ausweichend.
— Ich bin tief bekümmert, das Schicksal
hat mich schwer heimgesucht!
— Ja, das Schicksal! murmelte der Alte.
Es ist ein eigenes Ding mit diesem Schicksal,
das oft schlecht umgeht mit uns Menschenkindern.
Ich könnte ihm auch nicht gerade ein Loblied
singen. Der Schurke kommt empor, der Red-
liche geht unter . . . Bah, das ist eine alte
Geschichte! Wenn die Civilisation in unserem
lieben Vaterlandc so fortschreitet, wie sie seit
einiger Zeit begonnen hat, so gibt es bald kein
Gewissen mehr. Freiheit nach allen Richtungen,
das ist das Losungswort! Hier stiehlt ein Liberaler
Millionen, dort Ehre und guten Namen. Was
ist es denn weiter? Nichts, nichts, wenn er sich
nur wohl befindet. Da kommt kein Gewissen
und macht ihm Vorwürfe, auch kein Staats-
anwalt, der ihn anklagt . . . Das Verbrechen
schwelgt, die Tugend hungert und bettelt . . .
der Müßiggang wälzt sich in Luxus, die Arbeit
wird vom Elend gepeinigt . . .
Der Greis hatte so eifrig gesprochen, daß
er ruhen mußte.
— Sie entwerfen ein schreckliches Bild von
unseren Zuständen, sagte erstaunt Adele.
— Ein schreckliches, aber ein getreues Bild!
— Leider ist es wahr!
— Ich lese in Ihren Zügen, Madame, daß
auch Sic mit dem Schicksal grollen . . .
Ein trauriges, bitter schmerzliches Lächeln
war die Antwort.
— Stoßen Sie sich nicht an meinen Lum-
pen, fuhr der Alte fort, sie bedecken einen ar-
men, aber ehrlichen Mann ... wir sind Leidens-
genossen! Könnte ich, so würde ich mir schwarze
Kleider kaufen, um das zu betrauern, was

ich verloren. Ich habe nämlich Alles verloren,
dessen der Mensch zum Leben bedarf: Vermögen,
Familie und Ehre... O, warum weinen Sie?
Adele antwortete nicht, sie schüttelte das Haupt
und ging weiter.
Hagenwald, der ihr folgte, murmelte unver-
ständliche Worte in den Bart; soviel ließ sich
jedoch unterscheiden, daß der Groll aus ihm
sprach.
— Wahrlich, dachte Adele, dieser ist ein
Leidensgenossc! Er zeigt mir das Bild von dem,
was mir bevorsteht!
Eine unbesiegbare Traurigkeit bemächtigte sich
ihrer, erzeugt durch bange Zweifel und Furcht
vor der Zukunft. Sie legte sich die Frage vor:
„Was wird aus mir, wenn die Hand sich schließt,
die mir bisher den Lebensunterhalt gespendet?
Sie hat sich ja schon geschlossen, und wenn nicht,
könnte ich von Sabinen noch Almosen annehmcn?
Den Grafen in Anspruch zu nehmen sträubt sich
mein Ehrgefühl . . . Habe ich Gewißheit, daß
ich mein Kind nicht zurückerlange, so bleibt mir
nichts als . . . der Tod!"
So schrecklich dieser Gedanke auch war, es
lag doch eine Art Trost darin. Der Tod machte
ja allen Leiden schnell ein Ende. An dem näch-
sten Kreuzweg stand ein Wegweiser, den der
Greis aufmerksam betrachtete.
— Hier muß ich scheiden, sagte er bewegt.
Leben Sie wohl, leben Sie glücklich, wenn es
möglich ist!
Er sah schmerzlich die bleiche Frau an; dann
zog er grüßend den Hut und ging weiter. Jetzt
erst bemerkte Adele den traurigen Zustand des
Alten in der ganzen Ausdehnung. Wie ärmlich
war sein Rock, wie schmutzig und zerfetzt waren
die Drillhosen, welche die hageren Beine um-
flatterten. Ach, und die schweren Schuhe, der
schwache Alte konnte sie kaum fortschleppen, sie
behinderten ihn im Wandern. Auch der Leder-
ranzen, der tief auf dem gekrümmten Rücken
hing, war eine zu große Last für seine Alter-
schwäche. Adele fühlte sich von Mitleiden er-
griffen; sie suchte vergebens nach ihrer Geldbörse...
„Ich habe sie vergessen!" flüsterte sie wehmüthig.
„O, wäre ich reich, diesen armen Mann enthöbe
ich der materiellen Sorgen! Doch, jetzt muß auch
ich weiter, denn mich ruft ein ernstes Geschäft ...
Die Mutter sucht ihr Kind, sie will cs wieder
haben!"
Der harte Feldweg war bald zu Ende; der
Pfad zog sich über eine saftige Wiese, deren fri-
sches Grün dem Auge wohlthat. Auch die Füße
brannten nicht mehr so heftig, sie berührten
einen weichen, kühlen Boden. Und dort ragte
das hellgraue Schieferdach der Villa aus den
Zweigen empor und die Fenster blitzten im Strahl
der sinkenden Sonne.
Am Rande der Wiese mähete eine Frau mit
der Sichel Gras. Adele grüßte und fragte, wer
jene Villa bewohne. Die Frau, die ein rothes
Tuch über den Kopf geschlagen, blickte auf und
zeigte nun ein jugendlich frisches Gesicht, dessen
Wangen von der Arbeit glühten.
— Dort wohnt der Herr Graf von Raven-
stein, antwortete sie.
Nun hatte Adele volle Gewißheit. Schon
im Begriff weiter zu gehen, bemerkte sie ein
kleines Kind, das halb nackt im Grase spielte.
Wie rund und voll waren die Beine und Arme
des kräftigen Knaben, der mit seinen lichtblauen
Augen die schwarze Dame neugierig anstarrte.
Sein flachsblondes Haar ringelte sich zu natür-
lichen Locken. Ein weißes Hemdchen und ein
grauer Friesrock bildeten seine ganze Kleidung.

Plötzlich schrie das Kind laut auf und kroch hin-
ter den Korb, der zur Hälfte mit Gras auge-
füllt war.
— Wem gehört das Kind? fragte Adele
bewegt.
— Mir! antwortete stolz die junge Mutter,
die es empor auf den Arm genommen hatte und
zu beschwichtigen suchte. Dort kommt der Vater!
Ein Bauer im kräftigsten Mannesalter trat
aus dem angrenzenden Roggenfeld; er trug einen
leeren Korb auf dem Rücken. Erstaunt zog er
den groben Strohhut, der sein tiefbraunes Ge-
sicht vor der Sonne schützte. Das Kind, sofort
beruhigt, streckte die Händchen nach ihm aus ...
Nun ging es von dem Arm der Mutter auf
den des Vaters über, der es zärtlich an die
breite, offene Brust drückte. Das war eine
Scene, die der armen Adele das Herz durch-
schnitt! Wie glücklich waren diese schlichten Land-
leute, die im Schweiß ihres Angesichts das
Brod verdienen mußten. Gesund und frisch an
Geist und Körper gingen sie der sauren Beschäf-
tigung nach und freuten sich des muntern Jun-
gen, den kein tückischer Feind ihnen streitig
machte.
— Wie elend bin ich! schluchzte sie.
Um ihre Thränen zu verbergen, zog sie den
Schleier herab und eilte weiter.
Die Landleute sahen ihr verwundert nach.
Zehn Minuten später ging die schwarze
Dame an dem hohen Eisengitter hin, das den
gräflichen Park einschloß. Ein köstlicher Blumen-
duft mischte sich mit dem frischen Hauche, der
der Wiese entströmte. Auch in der Natur zeigte
sich eine künstlich gestaltete Aristokratie.. . Das
Eiscngitter grenzte sie ab von dem gemeinen
Idyll der Wiese. Adele hatte keinen Sinn für
die Schönheiten des Parks, der sich durch die
Gitterstäbe übersehen ließ; wie betäubt von den
verschiedenen Eindrücken, die sie empfangen, eilte
sie dem Ziel entgegen, das zu erreichen sie
Mutterliebe und Angst zwangen. Vielleicht hatte
sie nicht die passendsten Mittel gewählt, aber
ihr Gemüthszustand, der einer Monomanie nicht
unähnlich war, gestattete ihr scharfes Denken
und Kombiniren nicht, sie taumelte sinuverwirrt in
die Verhältnisse, wie sie sich gerade boten. Da
lag das Thor der Villa vor ihr; sie betrat den
Hof. Kein Domestik zeigte sich; ein großer Jagd-
hund, der herumlungerte, glotzte die Fremde an
und stieß ein kurzes Gebell aus. Adele bemerkte
es kaum, sie stieg die Stufeu der Freitreppe
hinan und betrat die offene Hausflur. Hen-
riette, die Kammerzofe der jungen Gräfin, kam
leichtfüßig die breite Treppe herab. Ueberascht
fragte sie:
— Was steht der Dame zu Diensten?
Die Zofe hatte einen scharfen Blick, sie er-
kannte sofort an der derangirten Toilette, daß
die schwarze Dame nicht der Aristokratie ange-
hörte, die nut der Herrschaft Umgang hatte.
Adclen's feines Gesicht war leicht geröthet und
ihre Augen glühten lebhaft, ein Umstand, der
sie reizend schön erscheinen ließ.
— Ist der Herr Graf von Ravenstein zu
sprechen? fragte sie mit matter Stimme.
Die Zofe stutzte.
— Der Herr Graf?
— Ja.
— Ich weiß es nicht genau, meine Dame.
— Er ist doch zu Hause?
— Ja.
— Ich möchte ihn sprechen.
— Wen werde ich die Ehre haben anzu-
melden?
 
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