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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 21.1886

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https://doi.org/10.11588/diglit.48816#0103
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98

„Am Lande," wendete der Matrose höhnisch ein,
„und so lange es gilt, befahrene kräftige Hände an-
zumustern. Der rechnet nämlich, zwei Jungens erster
Klasse arbeiten mehr, als drei von der Mittelsorte.
Nimmt er deren zehn statt der erforderlichen fünfzehn
an Bord, fließt der Ueberschuß in seine Tasche. Wie viele
sich den Tod an den Hals arbeiten, kümmert ihn wenig."
„Ich rede nicht zu," versetzte Wendehals, die Hand
nach dem Gelde ausstreckend, das noch immer auf dem
Tische lag; „meinte es eben gut mit Dir. Hast Du
keine Lust, soll's mich nicht scheren, wie Du mit der
Mutter Knebel fertig wirst —"
„In des Teufels Namen, so mag's d'rum sein,"
unterbrach der junge Mann ihn nunmehr grimmig,
und er legte die Faust auf das Geld, „eine lustige
Nacht will ich noch feiern, und sollte ich in den näch-
sten acht Tagen mit dem ,Kraken" zu Grunde gehen,
wenn nur der schuftige Kapitain mit hinunter muß!"
Auf einen Wink des hinterlistigen Menschenhändlers
hatte das Weib zwei Gläser gefüllt. Wendehals ergriff
das eine und schob das andere dem nicht mehr ganz
zurechnungsfähigen Burschen zu.
„Gut Glück zu Dir," sprach er, sein Glas erhebend.
„Dies geht auf mein Conto, und wenn je Einer auf
einem fixen Segler anmusterte, so bist Du cs. Berech-
nen können wir uns, nachdem Du ausgeschlasen hast.
Auch Deine Ausrüstung wollen wir überholen; wo's
fehlt, helfe ich um billige Preise nach. Wenn Jemand
nach See zu geht, soll man ein klebriges thun, damit's
ihm die Lust nicht verdirbt."
Sie stießen die Gläser an einander und leerten sie.
Schallend stellte der Matrose das seinige auf den Tisch,
und unter wildem Jauchzen stürmte er in das hinter
ihm tosende Gewirre zurück. Und doch hatte er sich in
Verhältnisse verkauft, an welchen er bei klaren: Denk-
vermögen weit vorbeigegangen wäre. Erwachte er aber
folgenden Tages aus seinen: Taumel, so fügte er sich
mit den beste:: Vorsätzen in die eiserne Nothwendigkeit,
um zu seiner Zeit abermals von den Werftschakalen
verlockt, ausgeplündert, gewissermaßen verkauft zu wer-
den. Zur Reue blieb ihn: keine Zeit. Denn einmal
an Bord, gleichviel welchen Schiffes, befand er sich in
feinem Element und vergaß schnell, um wie viel er
während des kurzen Landaufenthaltes bestohlen und
betrogen worden war! Er besaß ja Jugend, Gesund-
heit und Kraft, denen er ewige Dauer beimaß — und
dennoch — —
Mit verschmitztem Grinsen blickte Wendehals ihm
nach, bis das Gedränge ihn in sich ausgenommen hatte,
dann kehrte er sich dem Weibe mit den Worten zu:
„Noch zwei von dieser Sorte, und der ,Kraken" schafft's
mit zwölf Mann. Der ist uns sicher. Morgen in
aller Frühe machen wir seine Rechnung quitt. Bis
dahin ist sie angewachsen, daß ihn: von der Voraus-
bezahlung kaum noch genug zu einem abgetragenen
Oelzeug bleibt. Vor Thau und Tage muß er an
Bord sein."
„Vor/ voll,"" antwortete Mutter Knebel geschäfts-
mäßig. Dann nahmen die herandrängenden Burschen
ihre ganze Aufmerksamkeit wieder in Anspruch, zumal
ihr einäugiger Ehepartner sich mit Martin in ein
Würfelspiel eingelassen hatte. Anfänglich spielten sie
um volle Gläser. Aber schon nach den ersten Miß-
erfolgen gerieth der junge Hüne in Eifer, und Mark
auf Mark setzte er, die er fast ebenso schnell verlor.
Mit den: Ausdruck eines beutegierigen Raubthieres
beobachtete Wendehals die Beiden. Unwillkürlich
nickte er, wie Jemand, der mit den: Verlauf der Diuge
recht zufrieden ist. Einen mißtrauischen Blick sandte er
nach den: Nebeuraun: hinüber, wo Barnabas Rostig
und Eulenberg vor einem Tischchen Platz genommen
hatten, jedoch durch die dazwischen stehenden Menschen
seinen: Gesichtskreise entrückt wurden.
„Halloh, junger Herr!" rief er gleich darauf ge-
dämpft in die fast im Bereich seiner Hand befindliche
schmale Thüre hinein, und als er in dem tiefen Schat-
ten eine unbestimmte Bewegung entdeckte, fuhr er noch
Vorsichtiger fort: „Haben Sie sich überzeugt?"
„Ja, ja, er ist's," antwortete eine ebenfalls vor-
sichtig gedämpfte Stimme hinter den: Thürpfosten
hervor.
„Und was soll's darnach werden?"
„Es bleibt bei der Verabredung. Mir ist Alles
glcichgiltig — nur fort von hier, fort aus diesen: Hause,
fort aus der Stadt und auf's Meer hinaus, so bald
wie möglich."
„Gut, so begeben Sie sich auf der Stelle an Bord.
Da sind Sie an: sichersten aufgehoben. Gehen Sie aber
nicht über den Hof, sondern den Weg durch die Hinter-
thüre, den wir gekommen sind. Dieser Eisensinger ist
schlau für Zehne. Ihm traue ich zu, daß er Schild-
wachen ausgestellt hat, und wem sein Spioniren an
diesem Ort gilt, ist Wohl nicht zu bezweifeln. Ich
begleitete Sie gern selber, allein ich darf die Beiden
da drinnen nicht aus den Augen lassen."
„Ich werde mich in den Gängen durch die Hinter-
häufer verirren," wendete die Stimme aus dem Schatten
hervor ein.

Das Buch für Alle.
„Keine Noth," ermuthigte Wendehals, „treten Sie
in das Wohnzimmer der Knebels; da finden Sie den-
selben Mann, der Ihr Gepäck brachte. Es ist der
junge Knebel, ein durchaus zuverlässiger Bursche. Sa-
gen Sie ihm, er möchte Sie sammt Ihren Sachen !
unverzüglich an Bord des ,Kraken" schaffen. Dort ver-
melden Sie dem Kapitain Hader meinen schönsten
Gruß; damit weiß er Alles. Hab' nämlich alle Mög-
lichkeiten bedacht und das Nothwendige mit ihm ver-
einbart."
„Kraken, Kapitain Hader," wurde hinter dem
Thürpfosten wiederholt. Eine kurze, wenig geräusch-
volle Bewegung folgte; eine Thüre wurde geöfimt und
wieder geschlossen, dann lag die als Durchgang dienende
Kammer still. —
In den: Nebenzimmer, welches ausschließlich den
zechenden und Karten spielenden Seeleuten zum Auf-
enthalt diente und aus dessen qualmiger Atmosphäre
beinahe Mauersteine hätten geschnitten werden können,
waren Barnabas Rostig und Eulenberg unterdessen
nicht müßig geblieben. Sie saßen so, daß, wenn das
Gedränge vor dem Schänktisch sich lichtete, sie denselben
durch die offene Thüre hindurch nothdürstig zu über-
blicken vermochten.
„Es ist zwar kein angenehmer Aufenthaltsort hier,"
ermuthigte Barnabas Rostig den eingeschüchterten Ge-
fährten, „aber ich müßte seit einer Stunde meine ge-
sunden Augen gegen die eines Maulwurfes umgetauscht
haben, gingen wir nicht klüger von hier fort, als wir
herein gekommen sind. Befindet er sich in der Nähe,
so erfahren wir's; flüchtet er dagegen auf die Straße
hinaus, so nehmen der Werkel und der Andere ihn in
Empfang, bevor er drei Schritte über die Schwelle
hinaus gethan hat. Da — jetzt ist etwas Luft; nun
betrachten Sie noch einmal ordentlich den rothbärtigen
Kehlabschneider, den Wendehals. Ich sage Ihnen, der
hat mehr ruinirtes Menscheuglück und mehr ruchlos
geopferte Menschenleben auf dem Gewissen, als Fliegen
an einem heißen Sommertage das Aas eines Hundes
umschwärmen. Der ist nämlich einer von der ver-
worfensten Sorte von Landhaifischen. In der ganzen
Stadt gibt es keinen Schlupfwinkel, der nicht von diesem
Schurken zu erzählen wüßte."
„Vielleicht könnte er uns Auskunft über den jungen
Mann ertheilen," meinte Eulenberg zaghaft.
„Der? Gewiß könnte er das, weil er selber seine
Hand d'rinnen haben wird. Doch auch ohne das müßte
ihm ein Loch in den Schädel geschlagen und eine neue
Seele eingetrichtert werden, bevor er über Dinge redete,
die in sein Fach schlagen. Nein, er ist der Letzte, an
den wir uns wenden dürften. Es würde höchstens
dazu dienen, daß er den Ausreißer warnte und uns
vor der Nase fort auf's Meer hinaus schaffte."
In diesem Augenblick trat Juliane heran und stellte
zwei volle Biergläser auf den Tisch. Eine leichtfertige
Bemerkung schwebte ihr auf der Zunge. Die Physio-
gnomien der beiden Männer mit ihrem tiefen Ernst
mußten indessen einen entmuthigenden Eindruck auf sie
ausüben, denn sie beschränkte sich darauf, mit einer-
gewissen Höflichkeit das Geld zu fordern. Während
Barnabas Rostig in der Börse suchte, beobachtete sie
ihn scharf, wie um die hinter der breiten Stirn wir-
kenden Gedanken zu errathen. Dabei öffnete sie die
Lippen, wie zu einer Frage. Dann aber sich schüttelnd,
als hätte ein Frostschauer sie durchrieselt, kehrte sie
sich Eulenberg zu, der ebenfalls die Börse gezogen
hatte.
„Derartige zarte Hände sieht man nicht oft hier,"
bemerkte sie mit erzwungenem Lachen, „konnte man die
Haut wechseln, wie einen Rock, möchte mancher feine
Herr, dem es in seinem goldenen Hause zu langweilig
geworden, bei der Mutter Knebel eine lustige Nacht
feiern."
„Und eine Tracht Hiebe nut in den Kauf nehmen,"
fügte Barnabas Rostig gleichmüthig hinzu, während
die Comptoireule mit einem Gemisch von Erstaunen,
Widerwillen und Mitleid zu dem Mädchen emporsah.
„So erhielten sie nicht mehr, als sie verdienten,"
erwiederte Juliane gehässig. Sie vermochte Rostig's
forschenden Blick nicht zu ertragen, und den Kopf
emporwerfend betrachtete sie die geborstene, rauch-
geschwärzte Zimmerdecke. „Eine wilde Gesellschaft, die
blauen Jungens da drinnen," fuhr sie nachlässig fort,
„vor lauter Lust und Uebermuth wissen sie nicht, ob
sie die leeren Gläser an die Wand oder sich gegenseitig
an den Kopf werfen sollen. Aber in ihnen steckt mehr
Ehrlichkeit und Großmuth, als in allen reichen Herren
zusammengenommen, denen ein Jan Maat so viel gilt,
wie mir der Staub unter den Füßen; darum halte ich
auch zu ihnen."
Die beiden Männer hatten den Betrag für ihr
Bier auf den Tisch gezählt und ein vielleicht vierfach
so hohes Geldgeschenk beigefügt. Als Juliane dies
gewahrte, zuckte es um ihren Mund, wie vor heimlich
marterndem körperlichen Schmerz. Zugleich Preßte sie
die Hand, als sei es unbewußt geschehen, auf die rechte
Brustseite.
„Die Herren sind recht großmüthig," sprach sie mit ,

M 5.
bitterem Lächeln, „und ich weis' es nicht zurück, weil
ich es gebrauchen kann. Glauben Sie indessen, daß
Sie mir dadurch eine große Freude bereiten, so irren
Sie sich. Von jeden: einzelnen Maat da drinnen
hätte ich's lieber genommen; der hätte es mir aus
Freundschaft gereicht. Ich hasse nämlich Mitleid,
brauche keines."
„Armes Geschöpf," sprach die Comptoireule un-
bewußt vor sich hin.
Juliane, welche das Geld nachlässig mit der rech-
ten Hand in die offene linke geschoben hatte, fuhr
schnell nach ihn: herum.
„Wer behauptet, daß ich arm sei?" fragte sie scharf.
„Ich besitze meine offenen Augen, gehe meinen eigenen
Weg und fühle mich reich genug mit dem, was mir
zufällt. Mir ergeht's nicht schlechter, als den lustigen
Maats da drüben und hier an den Tischen. Wer
früh stirbt, wird im Alter nicht mit Füßen getreten."
Sie warf den Kopf herum, als wären die auf ihr
ruhenden ernsten Blicke ihr peinlich gewesen. Zugleich
fesselte Martin, der, halb auf dem Schänktisch liegend,
immer noch mit dem einäugigen Stelzfuß würfelte,
ihre Aufmerksamkeit. Um die welken Lippen, die vor-
wenigen Jahren noch in verlockender Frische lächelten,
zuckte und zitterte es eigenthüinlich, während cs sich
in ihren Augen wie zu Messern zuspitzte. Sie wollte
forttreten, als Barnabas Rostig sie mit den Worten
anredete: „Sind Sie denen vom blauen Wasser freund-
lich gesinnt, so muß sich nothgedrungen etwas davon
auf deren Angehörige übertragen. Dies vorausgesetzt,
möcht' ich wissen, ob Sie Auskunft über einen an-
gehenden Seemann ertheilen können, der von seinen
Eltern einem gegen deren Wunsch gewählten Beruf
entzogen werden soll."
Juliane saun eine Weile nach. Ihre Blicke flogen
unterdessen zwischen den beiden Männern hin und her.
In der Halle war wieder ein Tanz begonnen worden.
Sie schien der Musik zu lauschen, die sich nur wenig
von dem Getöse der wild durch einander schwirrenden
Gesellschaft auszeichnete. Plötzlich regte st- sich heftig,
wie von einen: Fieberschauer durchströmt.
„Einfangen wollen Sie ihn?" fragte sie gehässig,
„überwachen und beschützen gegen Verführung? Wer
hat mich überwacht und beschützt? Wer warnte mich,
als ein feiner Schurke sich mit heilig beschworenen
redlichen Absichten mir näherte, meiner Eitelkeit
schmeichelte und die an Dummheit grenzende Ver-
trauensseligkeit zu seinen fluchwürdigen Zwecken aus-
nutzte?" Sie lachte hell auf und doch so unbeschreib-
lich herbe, daß es die Comptoireule feindselig anwehte
und ein Ausdruck tiefer Trauer sich über Rostig's ver-
witterte Züge ausbreitete. Jäh, wie sie aufgelacht
hatte, verfiel sie auch in einen gleichsam drohenden
Ernst, und in beinahe zischendem Tone fuhr sie fort:
„Aber nichts ist vergessen. Noch athiue ich, wcnn's
auch nicht lang mehr dauert, und hoffentlich erlebe ich
es noch, daß der Schurke sich vor mir im Staube windet,
ich meinen Fuß auf seinen Nacken stelle und ihn: zu-
schreie : so straft man einen Lügner, so einen Betrüger,
so einen Verbrecher, der ärger ist, als die in Ketten
geschlossenen Mörder. Doch was kümmert Sie das?
Sie fragen nach Jemand, den: Sie ein besseres Loos
wünschen, der aber Ihre Güte verschmäht. Lassen Sie
ihn laufen. Wer in sein Unglück rennen will, dem
soll man nichts in den Weg legen."
„Er besitzt eine Mutter, die um ihn bangt," hob
Barnabas Rostig verweisend an, als Juliane ihn leiden-
schaftlich mit den Worten unterbrach: „Ich habe eben-
falls eine Mutter —" sie stockte und preßte die Hand
wieder auf die Brust; zugleich erhielten ihre Züge
einen milden Ausdruck. „Ja, eure arme, beklagens-
werthe Mutter," wiederholte sie weich, „und die Thrä-
nen, die sie um mich weinte, sind das Einzige, was
mir auf dem Gewissen brennt. Alles Andere ist Spie-
lerei dagegen. — Also eine Mutter? Hm, wie heißt
er? Doch das ist gle:chg:lt:g. Ist er feiner Leute
Kind und kommt hichcr, so gelangte er weit genug;
seinen Rainen wird er n:cht Jedem in die Ohren
schreien."
„In der Noth sr-tzt der Deibel Fliegen," erklärte
Barnabas Rostig rauh, um seine wahre Stimmung zu
verheimlichen; „da flüchtete er wahrscheinlich hieher,
nachdem ihm kund geworden, daß man Jagd auf ihn
mache."
„So flüchtet er auch noch weiter," versetzte Juliane
achselzuckend; „wer nicht gefunden werden will, findet
in diesem Theil der Stadt Gelegenheit genug, sich un-
sichtbar zu machen."
„Er ist verblendet," nahm Eulenberg nunmehr eifrig
das Wort, „er fürchtet Zwang, und doch soll nur sein
Glück begründet werden."
„Wer weiß, was er selber für Glück hält," warf
Juliane spöttisch ein, „aber Sie haben mir mit drei
; Worten mehr freundliche Theilnahme erwiesen, als
irgend Jemand seit vielen Jahren; da will ich Ihnen
zu Diensten sein, wenn es in meinen Kräften steht.
Wie sieht der junge Herr aus?"
, Eulenberg überreichte Juliane die stets bereit ge-
 
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