Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 21.1886

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48816#0150
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
146

ahnen, was mich von dannen trieb, wer zwischen uns
trat
Erschrocken fuhr er empor. Die Anwandlung von
Schwäche gewaltsam abschüttelnd, spähte er um sich.
Der Tag hatte sich gelichtet, daß er weiter um sich zu
schauen vermochte. Ueber ihm wölbte sich ein klarer
Himmel. Der Nebel war gesunken; die niedrig hängen-
den Dunstschichten zerriß die erwachende Morgenbrise.
Nicht mehr höher gelegene bebaute Ufer faßten den
Strom ein. lieber endlos erscheinende Flächen schweifte
der Blick. Ob Wasser, ob Sandbänke oder Moorboden:
Alles fiel in eine einzige, ununterbrochene Ebene zu-
sammen.
Weiter und weiter ging es in der trostlosen Um-
gebung, während die Helligkeit von Minute zu Minute
wuchs. Weiter unter dem eintönigen Stoßen und
Plätschern der Riemen und dem leisen Sprudeln der
vor dem flinken Boot sich theilenden Fluthen; weiter
auf der Fahrstraße, deren Windungen durch leicht er-
kennbare Wahrzeichen ausgesteckt worden. Bojen lagen
hier und da und erinnerten an Meerungeheuer, Welche
die spitz zulaufenden Köpfe zum Athmen aus dem
Wasser hoben. Kähne und Fischerboote rasteten ver-
einsamt an sicherer Stelle; im Stromkanal ankerte
hier und da ein Schiff, der Rückkehr der Fluth oder
des Eintreffens eines Schleppdampfers harrend, um die
Reise landwärts fortzusetzen. Auf gefährlicheren Punk-
ten erhoben sich Gerüste, die als Warnungssignale dien-
ten; seewärts plumpe Fahrzeuge mit Leuchteinrichtungen
auf dem stumpfen Mast.
Dies Alles sah Demetrius, aber er betrachtete es
wie im Traum und ohne ein rechtes Bild davon im
Gedächtniß zu behalten. Reger wendete er seine Auf-
merksamkeit den sich mehrenden Möven und sonstigen
Wasservögeln zu, welche von der Nähe des Meeres
zeugten. Es beschlich ihn die Empfindung, als habe
deren schriller Ruf ihm gegolten, ein Warnungsruf,
sich nicht hinauszuwagen in die endlose Wasserwüste,
eine klagende Mahnung an Alles, was er hinter sich
zurückgelassen hatte.
Breiter wurde der Strom, breiter wurden die bei
der Ebbe austauchenden Sand- und Schlammflächen,
häufiger wiederholten sich Bojen und Leuchtbaaken. In
ihrer starren Ruhe und jeder Segelvorrichtung ent-
behrend, glichen die rothbraunen Fahrzeuge gespensti-
schen Schifssleichen. Die Feuer waren ausgelöscht wor-
den; die Wächter hatten sich zur Ruhe begeben. Ans
das einsame Boot, welches mit den beiden Männern
stetig seinen Kurs verfolgte, achtete Niemand. Die
Ebbe gelangte zum Stillstand. Noch kurze Zeit, und
die rückkehrende Fluth brachte Leben in die zerstreut
ankernden Schiffe.
Wie eine Kugel von Rubinglas leuchtete die Sonne
durch die auf der Erde lagernde Dunstschicht hindurch.
Höher steigend wurde ihr der Kampf mit den Nebel-
resten erleichtert, bis sie endlich vom blauen Himmel
her ihre blendenden Strahlen ungehemmt über die
dampfenden Gewässer und Sandbänke hinsandte. Um
diese Zeit gab Knebel durch einen leichten Druck des
einen Riemens dem Boot eine andere Richtung. De-
metrius, in Sinnen versunken, beachtete es nicht. Wie
aus einem Traume erwachend fuhr er empor, als hinter
ihm des Burschen Stimme ertönte.
„Halloh, Fenchel/' rief er aus, „schon munter, wie
ich sehe!"
„Allezeit munter, Wenn s gilt!" antwortete ein tie-
fes, heiseres Organ.
Demetrius kehrte sich um. Eine rothbraune Schiffs-
wand raubte ihm die Aussicht. Als er nach oben
sah, erblickte er zwei breite Schultern und ein un-
bedecktes struppiges Haupt, dessen verwittertes, heftig
geröthetes Antlitz sich über Bord dem anlegenden Boot
zuneigte. Die untere Hälfte des verschwollenen Ge-
sichtes verbarg eine wirre, gelb und weiß gemischte
Bartkrause. Deutlicher unterschied er zwei wasserblaue
Augen, die trotz ihrer Verschwommenheit nichts weniger
als Vertrauen erweckend zu ihm niederfunkeltcn.
„Wie ist's," fragte Knebel hinauf, sobald das Boot
seitlüngs des Feuerschiffes zum Stillstand gelangt war,
„kann Jemand bis zur Nacht Quartier auf Ihrem
Sarg erhalten? Auf 'ne gute Entschädigung kommt's
den: jungen Maat hier nicht an."
Und noch durchdringender funkelten die gerötheten
Augen auf Demetrius. Einige Sekunden sann der un-
heimliche Wächter nach, dann bemerkte er wie zweifelnd:
„Will mich hängen lassen, wenn's kein Ausreißer ist
und es nicht mehr eintrüge, ihn abtreiben zu lassen."
„Ich bin bereit, mich erkenntlich zu zeigen," ver-
setzte Demetrius schnell, um das häßliche Piratengesicht
vorläufig zu beschwichtigen. „Sollten Sie mir die Auf-
nahme verweigern und ich infolge dessen mit Leuten
Zusammentreffen, denen ich auszuweichen wünsche, so
wären Sie der Letzte, der Vortheil davon zöge. Uebrigens
hängt meine Flucht nnt keinem strafwürdigen Vergehen
zusammen."
„Das kann Jeder sagen," hob Fenchel an, als
Knebel ihn durch einen Blick verstummen machte und
lebhaft einfiel:

Das Buch für Alle.

„Helfen wir ihm fort, kommt's keinem Unehrlichen
zugute. Und was feine Verwandten betrifft, die ihn
aushalten möchten, die kümmern uns nicht. Soll
übrigens schön grüßen von deni Stuhr und dem Ka-
Pitain Hader. Die meinen, der ,Kraken' würde zur
Nacht hier Vorübertreiben; da wär's 'ne Kleinigkeit,
den Herrn an Bord zu schaffen. Ich soll bestellen,
alten Bekannten müßte man sich gefällig zeigen."
„Alte Bekannte," wiederholte Fenchel grinsend.
Hastig kehrte er sich um, wie befürchtend, von irgend
einer Seite belauscht zu werden. Als er wieder in's
Boot hinabsah, hatte sein Gesicht einen widerwärtigen
Ausdruck des Wohlwollens angenommen. „Nun ja,"
sprach er, und er nahm die Thonpfeife, deren Kopf
seine Lippen anzussngen drohte, aus dem Munde, „wenn
die Sachen so stehen, ist's wohl Christenpflicht, ihm
'ne Hand zu leihen. Ich bin auch nicht abgeneigt
für 'ne mäßige Entschädigung; denn Schererei hab' ich
davon, und sich den Tag um die Ohren zu schlagen,
wenn man die ganze Nacht auf dem Posten verbracht
hat, ist keine Kleinigkeit. Komm' nach der anderen Seite
herum, da liegt die Treppe aus. Häng' Dein Boot
an die Jolle, da sieht's Niemand von der Wasserseite her.
Der Henker traue jeder Kraft, die hier vorüber segelt."
Knebel leistete der Aufsorderung Folge, und ge-
meinschaftlich mit Demetrius den schweren Zeugsack
ergreifend, stiegen Beide nach oben.
Auf dem Verdeck cingetroffen, bemerkte Demetrius,
daß der herbeihinkende Wächter mit Knebel eilten be-
zeichnenden Blick wechselte. Die Ursache des augen-
scheinlich zur Vorsicht mahnenden Winkes wurde ihm
klar, sobald er dessen Richtung mit den Augen folgte
und nach dem Hintertheil des Schiffes hinübersah,
wo ein rauchendes eisernes Rohr die Lage der Kajüte
verrieth. Aus der Luke, durch welche man aus einer
Treppe hinabgelangte, ragte nämlich der Oberkörper
einer Frauengestalt hervor. Mit den Händen stützte
sie sich leicht auf die Lukeneinfassung. So stand sie
regungslos, mit ihren großen dunklen Augen, über
welchen starke Brauen sich finster runzelten, ebenso
regungslos zu den Ankömmlingen hinüberschauend. Ob-
wohl es noch früh war, hatte sie ihr schwarzes Haar
sorgfältig gescheitelt. Nicht minder offenbarte sich in
ihrer groben, einfachen Bekleidung eine gewisse Vorliebe
für Ordnung und Sauberkeit, und in den noch jugend-
srischen, regelmäßig schönen Zügen ein sprechender Aus-
druck von Entschiedenheit.
Beim Anblick der auffallend stattlichen Erscheinung
verneigte Demetrius sich unwillkürlich. Wie im Er-
staunen rückten die Brauen auf dem schönen Antlitz
ein wenig auseinander. Durch eine kaum bemerkbare
Bewegung des selbstbewußt getragenen Hauptes wurde
der Gruß erwiedert, worauf Demetrius seine Aufmerk-
samkeit dem Wächter wieder zukehrte.
Zunächst entdeckte er an demselben einen durch-
dringenden Branntweingeruch; ferner Unbeholfenheit
der Bewegungen, die vielleicht mehr auf Unmäßigkeit,
als auf Gebrechlichkeit des Körpers zurückzusnhren, und
endlich, daß das Bewußtsein, von dem Mädchen be-
obachtet zu werden, Unsicherheit, sogar Verlegenheit in
seinem Wesen erzeugte. Er errieth daher leicht, in
Welcher Beziehung auch immer die jugendliche Erschei-
nung zu ihm stehen mochte, daß sie sür die Pünktliche
Erfüllung des Nachtdienstes Sorge trug und dadurch wohl
der Abdankung des unbeholfenen alten Mannes vorbcugte.
„Der Herr will den heutigen Tag an Bord dieses
Leuchters verbringen," hob Fenchel an, nachdem er dem
Bootführer die Hand geschüttelt hatte, „da soll er mir
willkommen sein, und ich gönn's ihm obenein, glücklich
zu entwischen. Jst's doch hart, soll eine junge rüstige
Kraft mit Gewalt die Feder hantiren, wenn's sie an-
wandelt, sich die Welt ein wenig anzusehen."
„Ungefähr getroffen," versetzte Demetrius ruhig,
„das Nähere ist meine eigene Angelegenheit und hin-
dert nicht, daß ich für jeden mir erwiesenen Dienst
mich dankbar erweise."
„Nebenbei angemustert als Jungmann an Bord des
,Kraken'," fügte Knebel mit verschmitztem Grinsen hinzu.
„Um Seemann zu bleiben und gänzlich mit dem
Leben auf dem Festlande zu brechen," ergänzte De-
metrius. „Sie wissen jetzt, woran Sie mit mir sind,
und werden daher vielleicht um so lieber gefällig fein."
„Recht so, Mann," erklärte Fenchel, nunmehr De-
metrius' Hand schüttelnd, „was zum Salzwasser gehört,
ist verwandt mit einander; da wollen wir Beide die
Vornehmthuerei über Bord werfen. Marie!" kehrte
er sich dem Mädchen zu, welches seine Stellung noch
nicht geändert hatte, „der Herr wird heute mit uns
leben. Sorge, daß er seinen Tisch bei uns gedeckt
findet; auch der Andere."
Marie sann einige Sekunden nach. Ihr Blick schien
sich dabei zu verschärfen. Dann antwortete sie mit
leichtem Achselzucken: „Zwei mehr finden so gut ihren
Kaffee und etwas dazu, wie wir Beide allein. In
einer halben Stunde mögt Ihr herunter kommen."
„Halte auch heiß' Wasser zur Hand," fuhr Fenchel
> fort, „Fremden einen kräftigen Trunk vorzusetzen, ist
! Christenpflicht."

Hcst »-
__
Auf Mariens Antlitz zuckte es wie im Zorn, wäh-
rend zu beiden Seiten der üppigen Lippen ein eigen
thümlicher Zug des Leidens sich bemerklich machte.
„Es soll an nichts fehlen," sprach sie fast tonlos
und da sie gewahrte, daß Demetrius sie erstaunt be-
trachtete, spähte sie nachlässig über die breite Waper-
fläche hin, auf welcher die rüctkehrende Fluth zu wirwn
begann. Ihren Platz in der Luke verließ sie indessen
nicht. Es gewann sogar den Anschein, als Hütte ste
Fenchel in seinem Verkehr mit dein jungen Knebel
überwachen wollen.
In der Entfernung von einigen Hundert Ellen polterte
ein Schleppdampfer vorüber und der See zu. Indem
die Männer ihm nachsahen, bemerkte Knebel: „Der
holt die Brigg da draußen herein. Das wäre 'ne gute
Gelegenheit, stromaufwärts zu kommen."
„Hab' vermuthet, Du wolltest gleichfalls bis Nacht
bleiben," versetzte Fenchel lauernd.
„Zur Nacht gibt's bei uns viel zu thun," hieß es
zurück, „da können die Alten mich schlecht entbehren.
Häng' ich mein Boot an die Brigg und steig' ich selber
an Bord, so wird dem Schlepper der Athen: nicht
d'rüber ausgehen, und ich bin zur rechten Zeit da-
heim. Ich muß mich nur darauf verlassen können,
daß Sie den ,Kraken' nicht verfehlen."
Bevor Fenchel zu antworten vermochte, tönte Ma-
riens Stimme von der Luke herüber. ,
„Ich versprech's, der Herr soll an Bord gelangen."
„Recht so, Schatz," versetzte der Bursche mit roher
Vertraulichkeit, „wenn Du es sagst, glaub' ich's. Aber
halt' Dich heran, denn an Stoppen ist nicht zu denken,
Wenn der .Kraken' mit der Ebbeströmung in guter
Fahrt ist."
Marie zuckte die Achseln geringschätzig. „Willst
Du mich lehren, die Jolle hantiren?" fragte sie spöttisch,
und gleichmüthig sah sie in eine andere Richtung.
„Bürge ich selber dafür, ist's Sicherheit genug,"
kehrte Fenchel sich in gedämpftem Tone dem Bur-
schen zu.
„Wenn's keinen Branntwein gäbe," wendete dieser
lachend ein, und um seinen Vorwurf abzuschwächen,
schlug er Fenchel auf die Schulter, „es geschähe wenig-
stens nicht zum ersten Mal, daß unser Freund Fenchel
um 'ne Flasche Rum seinen einträglichen Posten auf s
Spiel stellte."
„Ich möchte hören, ob je Einer das Feuer zu 'ner
Stunde vermißte, wenn's brennen sollte," erwiederte
Fenchel mürrifch.
„Glaub's gern, Mann; aber wenn die nicht wäre!"
versetzte Knebel, und er wies mit dem Daumen über
die Schulter nach der Luke hinüber. Ohne die möchten
Sie Ihren Ruheposten nicht lange behalten haben."
„Bist ein naseweiser Bursche," grollte Fenchel wie-
derum, „brennt's Licht, so brennt's, gleichviel, wer's
anzündete," und langsam schritten sie nach dem Vorder-
theil des Schiffes hinüber.
Während dieses Gespräches hatten sie Demetrius
kaum beachtet. Dieser hielt es daher für überflüssig,
ihnen zu folgen. Er lebte eben unter den: Eindruck, daß,
seitdem er sich für den Beruf eines Seefahrers entschie-
den hatte, er von Jedem, der bereits Erfahrungen auf
diesem Felde gesammelt hatte, als eine untergeordnete
Persönlichkeit betrachtet wurde. Ein Gefühl unsäglicher
Vereinsamung bemächtigte sich seiner infolge dessen.
Er begriff, daß Alles, was in den Kreisen, in welchen
er sich bisher bewegte, als Vorzug galt : sein Wissen,
seine Bildung und seine Sprache, feindselig zwischen
ihm und Denjenigen stehen würde, auf deren einzigen
Verkehr er fernerhin angewiesen sein sollte. Und den-
noch blieb ihm Reue über den einmal Ungeschlagenen
Weg fern. Er brauchte nur über einige Wochen hinaus
rückwärts zu denken, um alsbald wieder trotzig, wenn
auch mit finsterer Entsagung, der Zukunft entgegenzu-
sehen. Seines höheren inneren Werthes bewußt, war
er entschlossen, da, wo ihm verwehrt war, zu gebieten,
sich zu beugen. Der Anblick des seltsamen Mädchens
mit dem unverkennbaren Ausdruck verborgenen Leidens,
welches mit der Treppe gleichsam verwachsen zu sein
schien, berührte ihn daher., wohlthuend. Nach kurzem
Schwanken trat er vor dasselbe hin.
„Ich bedaure," hob er an, „Veranlassung zu einer
Unterbrechung Ihrer gewohnten Lebensweise gegeben
zu haben."
Marie sah ruhig in seine Augen. Nicht eine Linie
ihres Antlitzes verrieth Mißfallen oder Befriedigung.
! Dann erwiederte sie kalt: „Sie bezahlen für Ihren
! Aufenthalt hier. Da kann von Störung nicht die Rede
sein."
„Wohlan," versetzte Demetrius freundlich, „so be-
trachten Sie meine Bemerkung als hervorgegangen aus
dem Wunsch, eine Unterhaltung mit Ihnen anzuknüpfcn."
Marie zuckte wiederum in der ihr eigenthümlichen
Weise die Achseln und mit einem scharf ausgeprägten
! Zug vcn Bitterkeit um die vollen Lippen sprach sie:
! „Sagen Sie es lieber gerade heraus: es erscheint Ihnen
bedauerlich, daß ich in irgend welcher Beziehung zu
denen da vorne stehe. Sie glauben, daß ich mich deren
schäme, und möchten daher ein gutes Wort an mich
 
Annotationen