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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 21.1886

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https://doi.org/10.11588/diglit.48816#0455
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458

Ob der heidnische Kapitain Eisenfinger sich Wohl in die
Träume des Einen oder des Anderen einschmuggelt'? In
die des Kindes, der Priscilla schwerlich; denn da gönnt
der Ausreißer keinem Anderen mehr einen Platz. Wir
kennen das — die alten Zeiten — — nicht weiter in
.diesem Kurse, Barnabas Rostig! Beschließe den segens-
reichen Tag nicht mit schwermüthigen Betrachtungen.
Daher gute Nacht Euch Allen, die Ihr Euch noch des
Sonnenlichts erfreut! Gute Nacht Euch, die Ihr liebt
und hofft, denen die Zukunft unendlich, wie der blaue
Ocean, das Glück wie ein unerschütterlicher Felsen er-
scheint. Gute Nacht Euch, die Ihr Euch weidet an der
Wohlfahrt Anderer und zugleich einen furchtlosen Blick
über die letzte Barre hinübersendet! Gute Nacht aber
auch Euch, die Ihr bereits das größte Gehcimniß der
Welt kennen lerntet. Gute Nacht Euch mit Eurer
Treue, mit Eurer Anhänglichkeit; gute Nacht Euch mit
Eurem Leiden und Dulden, mit Eurer Zuversicht auf
ein fröhliches Wiedersehen!"
Die letzten Zeilen las Barnabas Rostig noch ein-
mal aufmerksam durch. Dann nickte er zufrieden,
worauf er das Messingschlößchen vor seine Geheimnisse
legte. Das einsame Giebelfenster verdunkelte sich. Tiefe
nächtliche Stille umlagerte das Pfarrhaus, unter dessen
Dach holder Friede seinen dauernden Wohnsitz aus-
geschlagen hatte.
Neununddreißigstes Aaxitcl.
Schluß.
Den Tag, an welchem im Hause des Geheimraths
über Demetrius' Zukunft entschieden wurde, hatte dieser ,
damit begonnen, daß er der Matrosenwittwe einen
längeren Besuch abstattete. Sein zweiter Besuch galt
der Frau Parchend, die ihm niit großer Zuversicht die
Erfüllung seiner innigsten Wünsche verhieß, sich dar-
auf berufend, daß der berühmte Kapitain Eisenfinger
noch nie eine Sache in die Hand genommen habe, die
nicht zu einem glücklichen Ende geführt worden wäre.
Auf diese Weise beruhigt, begab er sich an Bord
eines Schleppdampfers, der eben aufgeheizt hatte, uni
ein in der Mündung des Stromes ankerndes Schiff
herauf zu holen. Gern willfahrte man seiner Bitte, ihn
mitzunehmen, auf einem von ihm näher zu bezeich-
nenden Leuchtschiff abzusetzen und später zur Rückfahrt
wieder an Bord zu nehmen.
Die erste Hälfte des Nachmittags war noch nicht
verstrichen, als auf ein Signal des Dampfers die Jolle
sich von dem Feuerschiff trennte und unter stinken Ruder-
schlägen dem Fahrkanal zueilte. Bald darauf erkannte
Demetrius die Tochter des alten Fenchel. Doch erst
als er sich über Bord schwang und an einem Tau zu
ihr niederglitt, wendete sie ihm ihre Aufmerksamkeit
zu. Mit freundlichem Gruß nahm er in der Jolle
Platz. Marie dankte eintönig, indem sie mit kräftigen
Ruderschlägen dem unruhigen Kielwasser des Dampfers
sich entwand. Dann hob sie an:
„Ich hätte Sie beinahe nicht wieder erkannt, noch
weniger geglaubt, Ihnen in diesem Leben noch ein-
mal zu begegnen. Wohin wünschen Sie gerudert zu
werden?"
„An Bord Ihres Schiffes," antwortete Demetrius,
und in das schöne Antlitz blickend, meinte er, auf ein
Marmorgebilde zu schauen, so wenig offenbarte sich
in demselben irgend eine Regung. „Ich fand einst bei
Ihnen freundliche, vertrauensvolle Aufnahme, da glaubte
ich Ihnen einen Besuch schuldig zu fein."
„Das ist sehr gütig," hieß es zurück, „ich freue
mich, Sie gesund wiederzusehen; aber bei uns werden
Sie Manches verändert finden."
„Es ist doch Keiner gestorben?"
„Der Vater hat das Zeitliche gesegnet. Er starb
vor elf Tagen ohne vorhergegangene Krankheit. Eines
Morgens fand ich ihn todt in seiner Koje. Die traurige
Angewohnheit des Trunkes mag sein Ende beschleunigt
haben."
„Da ist noch Jemand; ich wage kaum nach ihm
zu forschen —"
„Sic meinen den Ferdinand? Der lebt, daß sich
Gott erbarm', aber seine Zeit ist nächstens abgclaufen,"
erklärte Marie, während der unheimliche Ausdruck
finsterer Entschlossenheit auf ihren regelmäßigen Zügen
sich verschärfte.
Nach einer Pause fuhr Demetrius wieder fort:
„Möchten Sie mir die Riemen geben?"
„Ich schaffe Sie bald genug hinüber, wenn Sie
wirklich ein Stündchen bei mir verbringen wollen. Sie
werden mit dem Dampfer zurückfahren? Ich rathe
Ihnen dazu; denn eh' viele Stunden vergehen, stürmt
es, daß Sie vielleicht zwei Tage auf eine andere Gelegen-
heit warten müßten."
„Es ist meine Absicht, heute noch heimzukehren."
„Gut; so helfe ich Ihnen zur rechten Zeit an
Bord."
„Wer verrichtet den Dienst auf Ihrem Schiff?"
„Ich, nach alter Weise. Auf meine Bitte gönnte
man mir wenigstens so lange hier zu bleiben, bis ein
anderer Wächter ernannt worden. Höchstens eine Woche

Das Buch für Alle.
und er ist hier. Später hätten Sie mich vergeblich
auf dem Feuerschiff gesucht."
„Wohin werden Sie sich mit dem armen Kranken
begeben?"
„Das weiß ich nicht. Ich konnte seine Anwesen-
heit an Bord nicht vor den Leuten verheimlichen, die
da kamen, um sich von der Art des Todes des alten
Mannes zu überzeugen. Ich erzählte ihnen meine
Geschichte; da waren sie mitleidig. Den Ferdinand
wollen sie in ein Spital bringen. Da darf ich ihn
täglich auf eine ganze Stunde besuchen. Auf meine
Einwendungen meinten sie, in seinem Zustande sei cs
ihm gleich, ob ich oder ein Anderer komme. Sie haben
Recht; mir ist es dagegen nicht gleichgiltig, wenn
Andere in ihm ein unvernünftiges Thier sehen und
demgemäß mit ihm Verfahren."
„Man wird Ihre Vorstellungen dennoch berücksich-
tigen und Sie nicht von ihm trennen."
„Auf mich hört Niemand. Sie mögen thun und
lassen, was sie wollen, mir ist's einerlei."
„Nein, Marie, es ist Ihnen nicht einerlei," versetzte
Demetrius dringend, denn der eigenthümliche Ton in
ihrer Stimme beängstigte ihn, „nein, Sie dürfen nicht
von ihm getrennt werden. Ich kenne einen Mann,
Kapitain Eisenfinger heißen ihn die Leute; der ist ein
wahrer Freund aller Seeleute, besonders der unglück-
lichen; er wird Ihnen seinen Beistand nicht ver-
sagen."
„Ich helfe mir selber, so gut ich kann."
„Ihr Vater mußJhnen Mittel hinterlassen haben—"
„Ja," fiel Marie heftig ein, und schärfer Peitschte
sie die Fluthen, „was er mir hinterließ, zählte nach
Tausenden von Thalern in Gold und Silber; außer-
dem lagen da mehrere Ballen Seidenstoffe. Es war
der Gewinn, den er aus seinem unerlaubten Verkehr
mit betrügerischen Schiffern zog. Ich selbst hatte mich
nie an dem Handel betheiligt, aber ich durfte ihm
nicht wehren, um des armen Ferdinand willen. Fanden
sie Geld und Waaren an Bord, so hätten sie Rechen-
schaft von mir gefordert, jedoch nimmermehr an meine
Unschuld geglaubt. Aber auch von meinem Vater soll-
ten sie nicht sagen, daß er unehrlich gewesen. Das
ging mir durch den Kopf, als ich des Morgens in der
Frühe den alten Mann todt dalicgen sah, und ohne
Säumen begab ich mich an'S Werk, Alles in die Jolle
hinab zu schaffen. Ich fuhr's hinaus nach einer tiefen
Stelle, wo keine Strömung ist. Da warf ich es über
Bord. In einer Stunde war's gethan; jetzt mochten
sie kommen, so Viele ihrer wollten. Und sie kamen,
um zu fragen, weshalb ich die Nothflagge aufgehißt
habe, und Andere wurden hergeschickt, um den Todten
zu beseitigen. Was sie nicht wissen sollten, erfuhren
sie nicht; das lag unten im Flußschlamm. Den Fer-
dinand konnte ich indessen nicht verheimlichen; daher
führte ich sie selber zu ihm; gefunden hätten sie ihn
ohnehin. Suchten sie doch das Schiff ab bis in den
Ballastraum hinab. ES mochten ihnen allerlei Gerüchte
zu Ohren gedrungen sein."
Sie zog die Riemen ein. Die Jolle streifte die
Schiffswand, und an derselben mit den Händen sich
hinschiebend, erreichten sie gleich darauf die Treppe.
Während sie das Boot ankettete, stieg Demetrius nach
oben. Alles lag und stand wie im vorigen Jahr, und
doch hatte er die Empfindung, als ob er sich aus einem
Geisterschiff befände, bereit, jeden Augenblick unter
feinen Füßen zu verschwinden. Zu lebhaft wirkten
in seiner Phantasie die Mittheilungen des seltsamen
Mädchens. Als dieses neben ihn hintrat, waren seine
Blicke nordwärts gerichtet, wo der Schleppdampfer sich
dem ankernden Schiff näherte. Marie wies nach dem
Westen hinüber.
,,EH' eine Stunde vorbei, ist der Wind herum-
gesprungen," sprach sie beinahe klanglos, „und noch
eine Stunde später, da weht es Einem die Worte vor
dem Munde weg und der Donner spielt dazu auf. Ich
kenne solche Anzeichen. Wen dann die Lust anwandelte,
der könnte mit einem leichten Fahrzeug schnell genug
in die offene See hinaussegeln."
Schnell kehrte Demetrius sich nach ihr um. Die
schwarze Ahnung, welche ihre Worte plötzlich in ihm
wachriefen, entschlummerte wieder, als er in die kalt
blickenden Augen sah.
Marie mochte seine Gedanken errathen haben, denn
sie zuckte die Achseln geringschätzig, bemerkte aber etwas
theilnahmvoller: „Als Sie von hier fortgingen, lastete
es schwer auf Ihnen. Ich sah's Ihnen an. Heut'
erkenn' ich, daß Sie vertrauensvoller in den Tag hinaus-
schauen."
„Sie täuschen sich nicht," antwortete Demetrius
freundlich, „was damals mein Gemüth beschwerte, ist
in der Hauptsache von mir genommen. Möchte es
Ihnen doch ähnlich ergehen."
„lieber kurz oder lang finde auch ich meine Ruhe,"
entgegnete Marie mit einem eigenthümlichen Lächeln,
welches Demetrius wiederum befremdete, „doch kommen
Sie; der Balken, auf dem wir im vorigen Jahr bei
einander saßen, hat seine Lage noch nicht verändert,"
und sie schritt dem Vordertheil des Schiffes zu.

M 20.

Demetrius folgte ihr. Theilnahmvoll betrachtete
er die große, schöne Gestalt, welche sich mit gleichsam
männlicher Kraft und Sicherheit vor ihm einher bewegte.
In ihrer Haltung prägte sich gewissermaßen aus, daß
ein Wille in ihr wohnte, der weder durch Zwang, noch
durch freundlichen Zuspruch erschüttert werden konnte.
Gleich darauf nahmen sie auf derselben Stelle Platz,
auf welcher Marie ihn einst mit ihrer, von tiefem Leid
durchwobenen Vergangenheit vertraut machte.
„Als ich Sie an Bord des ,Kraken' steigen sah,
fürchtete ich für Sie," kam sie ihm mit der Anrede
zuvor; „und ich mußte Wohl, denn Sie hatten sich
in die Gewalt zweier heimtückischer Mörder begeben."
„Zweier heimtückischer Mörder," bestätigte De-
metrius, „und wenn ich heute nicht zu deren Opfern
zähle, so danke ich es Ihnen allein."
„Sie benutzten meine Drohung?"
„Ich benutzte sie, und deren Wirkung war eine
niederschmetternde."
„Das Mittel, welches ich Ihnen in die Hand gab,
wird keinem Anderen mehr zu Gute kommen."
„Es bedarf dessen nicht mehr —"
Marie fuhr mit einer hastigen Bewegung herum.
Durchdringend senkte sie die Blicke in Demetrius' Augen,
dann fragte sie:
„Wie soll ich das verstehen?"
„Beide sind vom Geschick ereilt worden. Stuhr
wurde in Kalifornien gelyncht. Hader mag zur Zeit
ebenfalls vor seinem letzten Richter stehen. Als ich
San Francisco verließ, lag er noch hoffnungslos im
Spital. Durch einen furchtbaren Hieb, mit welchem
ein erbitterter Matrose ihm die Schädeldecke spaltete,
ist er unheilbarem Wahnsinn verfallen."
Mit festem Griff Packte Marie Demetrius' Arm.
Ihr durchdringender Blick schien sich noch zuzuspitzen.
So starrte sie ihn einige Sekunden an, bevor sie un-
gläubig fragte:
„Ist das wahr? Jst's nicht ein Märchen, ersonnen,
um mich zu beruhigen?"
„So wahr, wie ich hier neben Ihnen sitze," be-
theuerte Demetrius, „Sie wären die Letzte, der gegen-
über ich mir eine Unwahrheit zu Schulden kommen
ließe."
Marie seufzte tief auf; eine schwere Last schien
von ihrer Seele zu sinken.
„Gott sei Dank," sprach sie, „das ist eine Künde,
wie ich eine bessere mir nicht hätte wünschen können.
Auf Strafe und Rache habe ich gegrübelt drei lange
Jahre, und jetzt, da ich's aufgegeben hatte, die Mörder
zur Rechenschaft gezogen zu sehen, kommt die Beruhi-
gung mir wie im Traum."
Ihre Haltung erschlaffte. Sie neigte das Haupt
auf Kniee und Arme, wie um sich in dieser Stellung
dem Schlaf hinzugeben. Demetrius beobachtete sie mit
heimlicher Scheu. Er begriff, daß die Unbilden, mit
welchen ein grausames Geschick sie verfolgte, in ihrer
trostlosen Einsamkeit nur unauslöschlichen Haß und
tiefe Verbitterung hatten zeitigen können. Er begriff
aber auch, daß es vergebliche Mühe gewesen wäre, in
dem zerfleischten und zertretenen Herzen mildere Regun-
gen in's Leben rufen zu wollen.
Als sie nach einer längeren Pause sich wieder auf-
richtete, trug ihr Antlitz den gewohnten kalten, theil-
nahmlosen Ausdruck.
„Wir haben noch Zeit," sprach sie ruhig, und sie
spähte nach dem weit abwärts in der Flußmündung
dampfenden Schlepper hinüber, „ist's Ihnen nicht zu
viel, so möchten Sie mir erzählen, wie Alles sich er-
eignete." Sie erhob sich und fuhr in demselben kalten
Tone fort: „Doch zuvor begleiten Sie mich zu dem
armen Dulder. Wenn Sie fortgegangen sind, kehren
Sie schwerlich jemals wieder hierher zurück. Kommen
Sie aber, so finden Sie fremde Leute. Daher sollen
Sie sich von ihm verabschieden auf ewig, ihm einen
schmerzlosen Tod wünschen. DaS thut dieselben Dienste,
o, bessere noch , als ob ein Geistlicher die schönsten
Gebete über sein Grab hinspräche und — über das
meinige."
„Sie brüten Verhängnißvolles!" rief Demetrius
erschrocken aus, indem er aufsprang. „Marie, hören
Sie mich! Wütheu Sie nicht gegen sich selbst. Treten
Sie wieder in Verkehr mit den Menschen, und Sie
werden erfahren, daß aufrichtige Theilnahme und Treue
noch nicht ausgestorben sind."
„Ich brüte nur Eins," erwiederte das Mädchen
mit einem wehevollen und doch so seltsamen Lächeln,
„nämlich wie ich ihm, dessen Leben das meinige, der
mein Einziges und mein Alles gewesen, seitdem ich ihm
zum ersten Male begegnete, die Schmerzen lindern,
seine schreckliche Lage erleichtern kann. Doch was ver-
lieren wir die Zeit mit Reden? Der Dampfer wartet
nicht, auch nicht das Unwetter — kommen Sie," und
sich kurz umkehrend schritt sie, gefolgt von Demetrius,
auf die Kajüte zu. Gleich darauf traten sic in den
Verschlag ein, in welchem der Unglückliche nunmehr
schon seit drei Jahren eine Art Scheinleben führte.
Die beiden runden Luken standen offen und ließen einen
erquickenden Luftzug durch den engen Raum streichen.
 
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