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aber auch im Bergwerk nach Belieben Luftströmungen
zu erzeugen oder zu verhindern, sind in einzelnen Strecken
große Thüren, Wctterthüren genannt, angebracht, deren
Ocfsnen und Schließen mit Peinlicher Sorgfalt über-
wacht werden muß.
Augenblicklich aber war die Wetterführung bedeu-
tend gestört. Erstlich lag über Tage Gewitterschwüle
und verhinderte das lebhafte Zuströmen frischer Luft,
daun aber war innerhalb des Bergwerks irgend etwas
nicht in Ordnung.
Die matten Wetter verdichteten sich und ein brau-
ner Nebel entstand, durch welchen die Lampen nur noch
wie matte rothe Pünktchen leuchteten.
Die Ausfahrenden strebten alle nach der Sohle des
Hauptschachtes, wo unablässig die Fördergestelle, Scha-
len genannt, ganze Arbeitertrupps zu Tage beförder-
ten. Die matten Wetter nahmen nämlich zu und be-
gannen brandig zu werden, einzelne schwächere Arbeiter
wurden bereits ohnmächtig herauf befördert. Nur sämmt-
liche Beamten und eine Zahl der bewährtesten Arbeiter
blieben unten.
Ein hastig geführtes und erregtes Gespräch der
Beamten und eine Berathung mit den Oberhäuern er-
gab, daß sich im östlichen Felde eine Anzahl von Ar-
beitern, vielleicht dreißig Mann, befand, denen der Be-
fehl zur Ausfahrt nicht überbracht werden konnte.
Gerade diese Arbeiter aber befanden sich dadurch in
größter Gefahr, daß die matten Wetter sich in jenes
Feld erst zuletzt hineinzogcn, sie also von denselben
nicht früher etwas merkten, bis ihnen der Rückweg
durch die Wetter, die an Gefährlichkeit immerfort zu-
nahmen, vollkommen abgeschnitten war. Wenn da
nicht eine Aenderung cintrat und Hilfe geschaffen wer-
den konnte, mußten die Abgeschnittencn unfehlbar er-
sticken.
Eine nochmalige kurze Berathung ergab, daß die
Hauptwetterthüre der Gruudstrecke zu öffnen sei. Viel-
leicht erfolgte dann durch diese ein rettender Abzug der
gasgeschwängerten Lust.
Sofort brach eine Abthcilung von Arbeitern, ge-
führt von zwei Steigern, auf, um die Oeffnung zu
vollführen, aber sic waren kaum zwanzig Schritte vor-
gedrungen, als die Ersten bereits betäubt zu Boden
fielen und die Stärksten zu taumeln begannen. Nur
Einzelne kehrten schwankend zurück, die Anderen »ruß-
ten mit Mühe zurückgcholt werden.
In der Gruppe von Beamten und Arbeitern, die
noch unter Tage geblieben waren, herrschte dumpfe
Verzweiflung. Kaum konnten sich noch dicht neben
einander stehende Personen in dem Nebel erblicken, das
Athmen selbst wurde beschwerlicher, und nun lastete
noch das drückende Gefühl auf diesen Männern, ihre
Kameraden verloren zu wissen durch einen Feind, der
heimtückisch wie ein Höllengeist den Ahnungslosen, die
im östlichen Felde ciugeschlossen waren, die Athemluft
abschnitt.
Noch einen Weg gab es vielleicht, der durch eine
Seitenstrecke in kürzester Linie bis zu jener Wctterthüre
sührte, aber dieser war gefährlicher als alle anderen,
denn dort war vor einigen Wochen ein Theil eines
Pfeilers nicdergcbrochen, und Niemand wußte, ob dieser
Weg überhaupt zu Pafsircn sei. Dann aber konnte der
Tollkühne, der sich hinein wagte, kein Licht mit sich
nehmen, weil in der sauerstoffarmen Luft keine Lampe
mehr brannte. Wie also sollte er sich zwischen den
Trümmern zurecht und in die Nachbarstrecke hinein
finden?
Während in kurzen, abgebrochenen Sätzen noch alle
Möglichkeiten berathen und auch dieser letzte Weg für
abgeschnitteu erklärt wurde, trat aus dem Hintergründe
ein Arbeiter hervor, der jetzt erklärte: „Ich werde den
Weg versuchen, Herr Obersteiger."
'„Sic? Wer sind Sie?"
„Häuer Alfred Mergcrt."
„Es ist ein Verwandter unseres Herrn Schicht-
.meisters, ein sehr tüchtiger Arbeiter!" erklärte der
Steiger vom Dienst.
„Warum wollen gerade Sie die Fahrt wagen? Sic
wissen doch, daß wenig Aussicht Vorhanden ist, daß Sie
mit dein Leben davon kommen?"
„Ich habe nichts zu verlieren, ich stehe allein in
der Welt. Die Kameraden alle, auch die Eingeschlos-
scncu, sind Familienväter."
„Brav von Ihnen! Reichen Sie mir Ihre Hand.
Behüte Sie Gott, Glück auf!"
Um eine Verbindung mit dem Vordringenden —
wenn auch nur durch Zeichen — und den etwaigen
Rückweg zu ermöglichen, wurde Alfred eine leichte
Mcßlcine, die auf einer Rolle befestigt war, um den
Leib gebunden, er erhielt ein cssiggetränktes Tuch, eine
Axt steckte er in seinen Gurt. In wenigen Sekun-
den waren die Vorbereitungen getroffen.
Alfred wendete sich noch einmal zu den Anwesenden
zurück: „Glück auf!"
„Glück auf!" klang der alte Bergmannsgrnß ge-
preßt von den Lippen der Zürückbleibendcn, war er
doch gleich einen: Gruße in das Grab hinein.
Alfred drückte das Tuch vor Mund und Nase, mit
Das Buch für Alle.
der Rechten tastete er sich vorwärts. Im nächsten >
Augenblick war er im Nebel verschwunden, noch hörte
man gedämpft den Schall seiner Tritte.
Auch dieser verstummte.bald, aber die Leine wickelte
sich stetig von der Rolle ab.
Plötzlich erhielt die Leine einen Ruck und stand
daun still. Die nur noch matt flackernden Lampen
wurden dicht über die Rolle der Leine gehalten, um
jedes Zucken derselben zu beobachten. Eine dicht ge-
schlossene Gruppe bildete sich um das Ende des Fadens,
der den todesmuthig Vordringcndcu noch mit dein Leben
verband, stehend, kniend und auf den Fersen hockend,
blickten Beamte und Arbeiter regungslos auf die Leine,
die jetzt wieder einige Male heftig zuckte und dann
abermals still stand.
„Er taumelt bereits!" sagte flüsternd eine Stimme
aus der Gruppe, als wagte sie nicht, die doch Allen be-
kannte traurige Beobachtung laut auszusprechen.
Ein heftiges Reißen an der Leine, die sich wieder
abzuwickeln begann, zeigte indeß, daß der Retter sich
wieder aufgerafst habe.
Nur wenige Sekunden aber, und die Leine stand
abermals still.
Die Aufregung in der Gruppe stieg auf das Höchste.
Zitternd vor Erwartung harrte man der Weiterbeweguug
der Leine, die wie festgebannt blieb. Kein Wort wurde
gesprochen, man hörte nur die keuchenden Athemzüge
der in der dicken Luft kaum noch mit Mühe athmen-
den Männer.
Bange Minuten des Harrens vergingen.
Die Leine bewegte sich nicht mehr.
Die Häupter entblößten sich und Arbeiter und Be-
amte beteten:
„Heilige Maria, Mutter Gottes. Bitt' für uns
arme Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres'
Todes. Amen."
3.
Der Helle Sonnenschein fluthet durch den Hochwald.
Würzigen Duft strömen die harzreichen Tannen aus,
die so trotzig hoch in die Luft ragen und in ihrem
dunklen, ernsten Grün stolz herabsehen auf das hell-
grüne Gesindel von Bärenklau, Farrnkraut und Schachtel-
halm, auf Moos und Flechten da unten auf dem
Waldcsbodcn.
Wie wohlig warm scheint die Frühlingssonne in
den kleinen Garten, der unmittelbar an den Forst grenzt
und nur durch einen niedrigen Staketenzaun von der
Waldwiese getrennt ist. Der Garten aber befindet sich
hinter dem Hause des Zolleinnchmers, das dort steht,
wo die Kunststraße sich in zwei Arme theilt, die sich
mehr und mehr von einander entfernen, je weiter sic
gehen, gleich wie zwei gute Freunde mehr und mehr
aus einander kommen, je länger ein Zwiespalt zwischen
ihnen dauert.
Diese Kunststraße ist aus Kreismitteln hergestellt,
und deshalb wird auf ihr von Vieh und Wagen ein
Zoll erhoben, dessen Beitreibung dem alten Lieute-
nant a. D. Lustig obliegt. Lustig ist ein hoher Sech-
ziger, eine „Seele von einem Manne", wie man in
Oberschlcsien sagt. Noch immer hält er sich straff und
gerade, trotz des Alters und der Weißen Haare, und
auf feinem Gesicht mit dein kurzen Backenbart spiegelt
sich noch immer Freundlichkeit und Herzlichkeit, trotz-
dem Lustig als alter Soldat das Recht hätte, recht
bärbeißig und barsch zu sein.
Es ist ihm aber nie eingefallen, von diesem Rechte
Gebrauch zu machen, und deshalb ist er bei Jung und
Alt beliebt, und Manchem, der das Chausscegeld nicht
gern bezahlt, weil er es als eine höchst unnütze Ausgabe
betrachtet, wird dieser schwere Augenblick des Zahlens
dadurch erleichtert, daß der alte Lustig das Geld in
Empfang nimmt.
Wenn man ihn bei schönem Wetter auf der stei-
nernen Bank unter dem Einnehmerfcnster sitzen sieht,
seine stets brennende Pfeife rauchend und in einem
Buche lesend — denn Rauchen und Lesen sind die ein-
zigen Leidenschaften dieser harmlosen Natur — dann
wird man unwillkürlich freundlich gestimmt und dazu
geneigt, ein paar liebenswürdige Worte der Begrüßung
init Herrn Lustig zu wechseln.
Nicht nur die Bauern der Umgegend, welche mäch-
tige Wagen Langhölzer aus dem Walde nach den Berg-
werken und von diesen wieder Steinkohlen nach den
Dörfern mit ihren Gespannen befördern, bezeugen ihm
ihren Respekt, sondern auch die österreichischen Bauern
von jenseit der Grenze, in den Weißen bis zu den
Knöcheln reichenden Friesröcken, ziehen demüthig ihre
spitzen schwarzen Filzhüte.
Und wie nicken schon von Weitem zur Begrüßung
die langbärtigen polnischen Juden, die hoch oben auf
ihren Heu- und Strohwagen sitzen in ihren langen
Kaftans und den schwarzseidenen Schirmmützen, unter
welchen die propfenzieherartig gedrehten Locken, die
Papes, hervorbaumeln.
Ja, selbst der Herr Bergrath verfehlt nicht, wenn
er vorüberfährt, dem alten Lustig die Hand zu reichen
und sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
Daß es Lustig in seiner Militärlaufbahn nicht
Hest 2l.
weiter als bis zum Lieutenant gebracht hat, das ist
nicht seine Schuld, sondern die der ewigen Friedens-
verhältnisse, die während seiner Dienstzeit herrschten.
Damals nahm man mit Ehren und grauem Kopf im
Anfänge der fünfziger Lebensjahre noch als Lieute-
nant seinen Abschied, erhielt eine Aussicht auf An-
stellung im Staatsdienst und Pflegte dann eine Familie
zu gründen. Auch Lustig war 'diesem laudcsüblichcu
Programme gefolgt, und wenn seine Frau auch bald
starb, so hinterließ sie ihm doch den Blondkopf Lott-
chen, der mitten im Walde unter des Vaters sanfter
Obhut zu einem prächtigen Mädchen herangewachscn war.
Wer sich für Lottchen interessirt, der findet sie augen-
blicklich aus einer Rasenbank in dem bereits erwähnten
Garten, wo sie mit der höchst prosaischen Thätigkeit
des Mohrrübenputzens beschädigt ist. Alles an ihr
athmet Wald und Waldesduft, so erklärte nämlich
neulich unter den furchtbarsten Betheuerungeu der Feld-
messer Stegemeper, über den das unheimliche Gerücht
im Umlaufe ist, er mache Gedichte, eine Verdächtigung,
die im oberschlesischen Jndustriebezirk zu den denkbar
schwersten gehört.
Und in der That, Lottchen sah wie ein echtes Wald-
kind aus mit den langen blonden Zöpfen, den blauen
Augen, frischen Wangen und der drallen, mittelgroßen
Gestalt. Es war ein Vergnügen, ihr bei der Arbeit
zuzuschauen.
Und es sah ihr in diesem Augenblicke Jemand zu.
Gedeckt durch Unterholz, stand vielleicht fünfzehn Schritte
vom Gartcuzaun entfernt, unmittelbar an: Rande des
Waldes, der Rcvierförster Schwelm und blickte unver-
wandt nach dem mohrrübenschabenden Lottchen hinüber.
Diana, seine schwarze Vorstehhüudin, für gewöhn-
lich abgekürzt „Dia" genannt, hat den Auftrag be-
kommen, sich ruhig zu Verhalten, und deshalb sieht sie
ganz verständnißinnig ihren Herrn aus den Augen-
winkeln an, hin und wieder blinzelnd und unablässig
die lange Ruthe hin und her schwenkend.
„Heut thu' ich's!" murmelte Schwelm. „Hol'mich
Dieser und Jener, wenn ich's nicht thue!"
Dann rückte er die herabgeglittene Büchse höher
auf die Schulter hinauf und kam aus dem hohen Holze
direkt auf den Gartenzaun los.
Er sah ganz düster und entschlossen aus, sein
Herz Plante aber nichts Schreckliches. Ganz im Geaeu-
theil.
Der wackere Schwelm war als Forstmann wie als
Mensch überall geschätzt. Seine besondere Stärke be-
stand in der Erzählung. Da konnte sich von den zahl-
reichen Forstbeamten der Herzöge tm Ujest und Ratibor,
des Herrn v. Thiele-Winckler und des Fürsten v. Pleß
keiner mit Schwelm messen. In der Erzählung von
Jagdgeschichten reichte ihm keiner das Wasser. Man
sei nicht etwa voreilig und halte Schwelm für einen
gewöhnlichen Jägerlateiner. Zu lügen und ungeheuer-
liche Jagderlebnissc zu erzählcu, das ist keine Kunst,
aber so zu erzählen, wie Schwelm dies that, w.,. ein-
fach phänomenal.
Er hatte eine Art und Weise, ll Zeugung zu
heucheln und Glauben zu erwecken, daß Jeder, der ihm
znhörte, fest an das glaubte, was ihm der Weidmann
vortrug, und erst wem: dieser mit schwungvollem Schluß
seine Erzähluug beendet hatte, kam das -Opfer dazu,
sich langsam zu besinnen und die Ansicht zu gewinnen,
daß cs doch nicht ganz richtig mit der Geschichte sei,
die es eben gehört.
Schwelm also kam, begleitet von Dia, auf den
Gartenzaun los und machte immer kleinere Schritte,
je näher er kam, denn der Empfang, der ihm von
Lottchen Lustig zu Theil wurde, war keiueswegs cr-
muthigcnd. Sie sah nämlich den Weidmann nicht,
trotzdem sie ihn eigentlich sehen mußte.
Sie blickte unablässig ans ihr Gemüse, und Jägers-
mann und Hund schienen für sie gar nicht vorhanden
zu sein.
(Forschung folgt.)
Milgeiistärlrung.
(Siche das Bild auf Seite 481.)
„Einen Schluck in Ehren, darf Niemand wehren," denkt
der wackere Meister ans dem mit gutem Humor und großer
Naturtreue ausgesührten Bilde von W. Löwith, das wir auf
Seite 481 im Holzschnitt reprodnziren, wenn ein leises Mahnen
in seinem Magen ihn daran erinnert, diesem die gewohnte
Stärkung zu Theil werden zu lassen. Er läßt daher die
Arbeit einen Augenblick ruhen, und wie Doktor Faust die
mit dem „braunen Safte" gefüllte krystallene Phiole, so holt
er nun „mit Andacht" die Flasche mit dem kräftigen Destillat
aus der Wandnische herunter. So sehen wir ihn mit dem
vorgebundeuen Schurzsell und der schwarzen Mütze auf dem
Kopfe dastehen, wie er vorsichtig mit gespannter Aufmerksam-
keit sein Gläschen aus der Flasche füllt, wobei sich über sein
faltiges, gutmüthiges Gesicht) bereits ein Vorgeschmack von
dem Genüsse dieser Magenstärkung verbreitet, welchen Aus-
druck der Künstler ganz vorzüglich getroffen hat.
aber auch im Bergwerk nach Belieben Luftströmungen
zu erzeugen oder zu verhindern, sind in einzelnen Strecken
große Thüren, Wctterthüren genannt, angebracht, deren
Ocfsnen und Schließen mit Peinlicher Sorgfalt über-
wacht werden muß.
Augenblicklich aber war die Wetterführung bedeu-
tend gestört. Erstlich lag über Tage Gewitterschwüle
und verhinderte das lebhafte Zuströmen frischer Luft,
daun aber war innerhalb des Bergwerks irgend etwas
nicht in Ordnung.
Die matten Wetter verdichteten sich und ein brau-
ner Nebel entstand, durch welchen die Lampen nur noch
wie matte rothe Pünktchen leuchteten.
Die Ausfahrenden strebten alle nach der Sohle des
Hauptschachtes, wo unablässig die Fördergestelle, Scha-
len genannt, ganze Arbeitertrupps zu Tage beförder-
ten. Die matten Wetter nahmen nämlich zu und be-
gannen brandig zu werden, einzelne schwächere Arbeiter
wurden bereits ohnmächtig herauf befördert. Nur sämmt-
liche Beamten und eine Zahl der bewährtesten Arbeiter
blieben unten.
Ein hastig geführtes und erregtes Gespräch der
Beamten und eine Berathung mit den Oberhäuern er-
gab, daß sich im östlichen Felde eine Anzahl von Ar-
beitern, vielleicht dreißig Mann, befand, denen der Be-
fehl zur Ausfahrt nicht überbracht werden konnte.
Gerade diese Arbeiter aber befanden sich dadurch in
größter Gefahr, daß die matten Wetter sich in jenes
Feld erst zuletzt hineinzogcn, sie also von denselben
nicht früher etwas merkten, bis ihnen der Rückweg
durch die Wetter, die an Gefährlichkeit immerfort zu-
nahmen, vollkommen abgeschnitten war. Wenn da
nicht eine Aenderung cintrat und Hilfe geschaffen wer-
den konnte, mußten die Abgeschnittencn unfehlbar er-
sticken.
Eine nochmalige kurze Berathung ergab, daß die
Hauptwetterthüre der Gruudstrecke zu öffnen sei. Viel-
leicht erfolgte dann durch diese ein rettender Abzug der
gasgeschwängerten Lust.
Sofort brach eine Abthcilung von Arbeitern, ge-
führt von zwei Steigern, auf, um die Oeffnung zu
vollführen, aber sic waren kaum zwanzig Schritte vor-
gedrungen, als die Ersten bereits betäubt zu Boden
fielen und die Stärksten zu taumeln begannen. Nur
Einzelne kehrten schwankend zurück, die Anderen »ruß-
ten mit Mühe zurückgcholt werden.
In der Gruppe von Beamten und Arbeitern, die
noch unter Tage geblieben waren, herrschte dumpfe
Verzweiflung. Kaum konnten sich noch dicht neben
einander stehende Personen in dem Nebel erblicken, das
Athmen selbst wurde beschwerlicher, und nun lastete
noch das drückende Gefühl auf diesen Männern, ihre
Kameraden verloren zu wissen durch einen Feind, der
heimtückisch wie ein Höllengeist den Ahnungslosen, die
im östlichen Felde ciugeschlossen waren, die Athemluft
abschnitt.
Noch einen Weg gab es vielleicht, der durch eine
Seitenstrecke in kürzester Linie bis zu jener Wctterthüre
sührte, aber dieser war gefährlicher als alle anderen,
denn dort war vor einigen Wochen ein Theil eines
Pfeilers nicdergcbrochen, und Niemand wußte, ob dieser
Weg überhaupt zu Pafsircn sei. Dann aber konnte der
Tollkühne, der sich hinein wagte, kein Licht mit sich
nehmen, weil in der sauerstoffarmen Luft keine Lampe
mehr brannte. Wie also sollte er sich zwischen den
Trümmern zurecht und in die Nachbarstrecke hinein
finden?
Während in kurzen, abgebrochenen Sätzen noch alle
Möglichkeiten berathen und auch dieser letzte Weg für
abgeschnitteu erklärt wurde, trat aus dem Hintergründe
ein Arbeiter hervor, der jetzt erklärte: „Ich werde den
Weg versuchen, Herr Obersteiger."
'„Sic? Wer sind Sie?"
„Häuer Alfred Mergcrt."
„Es ist ein Verwandter unseres Herrn Schicht-
.meisters, ein sehr tüchtiger Arbeiter!" erklärte der
Steiger vom Dienst.
„Warum wollen gerade Sie die Fahrt wagen? Sic
wissen doch, daß wenig Aussicht Vorhanden ist, daß Sie
mit dein Leben davon kommen?"
„Ich habe nichts zu verlieren, ich stehe allein in
der Welt. Die Kameraden alle, auch die Eingeschlos-
scncu, sind Familienväter."
„Brav von Ihnen! Reichen Sie mir Ihre Hand.
Behüte Sie Gott, Glück auf!"
Um eine Verbindung mit dem Vordringenden —
wenn auch nur durch Zeichen — und den etwaigen
Rückweg zu ermöglichen, wurde Alfred eine leichte
Mcßlcine, die auf einer Rolle befestigt war, um den
Leib gebunden, er erhielt ein cssiggetränktes Tuch, eine
Axt steckte er in seinen Gurt. In wenigen Sekun-
den waren die Vorbereitungen getroffen.
Alfred wendete sich noch einmal zu den Anwesenden
zurück: „Glück auf!"
„Glück auf!" klang der alte Bergmannsgrnß ge-
preßt von den Lippen der Zürückbleibendcn, war er
doch gleich einen: Gruße in das Grab hinein.
Alfred drückte das Tuch vor Mund und Nase, mit
Das Buch für Alle.
der Rechten tastete er sich vorwärts. Im nächsten >
Augenblick war er im Nebel verschwunden, noch hörte
man gedämpft den Schall seiner Tritte.
Auch dieser verstummte.bald, aber die Leine wickelte
sich stetig von der Rolle ab.
Plötzlich erhielt die Leine einen Ruck und stand
daun still. Die nur noch matt flackernden Lampen
wurden dicht über die Rolle der Leine gehalten, um
jedes Zucken derselben zu beobachten. Eine dicht ge-
schlossene Gruppe bildete sich um das Ende des Fadens,
der den todesmuthig Vordringcndcu noch mit dein Leben
verband, stehend, kniend und auf den Fersen hockend,
blickten Beamte und Arbeiter regungslos auf die Leine,
die jetzt wieder einige Male heftig zuckte und dann
abermals still stand.
„Er taumelt bereits!" sagte flüsternd eine Stimme
aus der Gruppe, als wagte sie nicht, die doch Allen be-
kannte traurige Beobachtung laut auszusprechen.
Ein heftiges Reißen an der Leine, die sich wieder
abzuwickeln begann, zeigte indeß, daß der Retter sich
wieder aufgerafst habe.
Nur wenige Sekunden aber, und die Leine stand
abermals still.
Die Aufregung in der Gruppe stieg auf das Höchste.
Zitternd vor Erwartung harrte man der Weiterbeweguug
der Leine, die wie festgebannt blieb. Kein Wort wurde
gesprochen, man hörte nur die keuchenden Athemzüge
der in der dicken Luft kaum noch mit Mühe athmen-
den Männer.
Bange Minuten des Harrens vergingen.
Die Leine bewegte sich nicht mehr.
Die Häupter entblößten sich und Arbeiter und Be-
amte beteten:
„Heilige Maria, Mutter Gottes. Bitt' für uns
arme Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres'
Todes. Amen."
3.
Der Helle Sonnenschein fluthet durch den Hochwald.
Würzigen Duft strömen die harzreichen Tannen aus,
die so trotzig hoch in die Luft ragen und in ihrem
dunklen, ernsten Grün stolz herabsehen auf das hell-
grüne Gesindel von Bärenklau, Farrnkraut und Schachtel-
halm, auf Moos und Flechten da unten auf dem
Waldcsbodcn.
Wie wohlig warm scheint die Frühlingssonne in
den kleinen Garten, der unmittelbar an den Forst grenzt
und nur durch einen niedrigen Staketenzaun von der
Waldwiese getrennt ist. Der Garten aber befindet sich
hinter dem Hause des Zolleinnchmers, das dort steht,
wo die Kunststraße sich in zwei Arme theilt, die sich
mehr und mehr von einander entfernen, je weiter sic
gehen, gleich wie zwei gute Freunde mehr und mehr
aus einander kommen, je länger ein Zwiespalt zwischen
ihnen dauert.
Diese Kunststraße ist aus Kreismitteln hergestellt,
und deshalb wird auf ihr von Vieh und Wagen ein
Zoll erhoben, dessen Beitreibung dem alten Lieute-
nant a. D. Lustig obliegt. Lustig ist ein hoher Sech-
ziger, eine „Seele von einem Manne", wie man in
Oberschlcsien sagt. Noch immer hält er sich straff und
gerade, trotz des Alters und der Weißen Haare, und
auf feinem Gesicht mit dein kurzen Backenbart spiegelt
sich noch immer Freundlichkeit und Herzlichkeit, trotz-
dem Lustig als alter Soldat das Recht hätte, recht
bärbeißig und barsch zu sein.
Es ist ihm aber nie eingefallen, von diesem Rechte
Gebrauch zu machen, und deshalb ist er bei Jung und
Alt beliebt, und Manchem, der das Chausscegeld nicht
gern bezahlt, weil er es als eine höchst unnütze Ausgabe
betrachtet, wird dieser schwere Augenblick des Zahlens
dadurch erleichtert, daß der alte Lustig das Geld in
Empfang nimmt.
Wenn man ihn bei schönem Wetter auf der stei-
nernen Bank unter dem Einnehmerfcnster sitzen sieht,
seine stets brennende Pfeife rauchend und in einem
Buche lesend — denn Rauchen und Lesen sind die ein-
zigen Leidenschaften dieser harmlosen Natur — dann
wird man unwillkürlich freundlich gestimmt und dazu
geneigt, ein paar liebenswürdige Worte der Begrüßung
init Herrn Lustig zu wechseln.
Nicht nur die Bauern der Umgegend, welche mäch-
tige Wagen Langhölzer aus dem Walde nach den Berg-
werken und von diesen wieder Steinkohlen nach den
Dörfern mit ihren Gespannen befördern, bezeugen ihm
ihren Respekt, sondern auch die österreichischen Bauern
von jenseit der Grenze, in den Weißen bis zu den
Knöcheln reichenden Friesröcken, ziehen demüthig ihre
spitzen schwarzen Filzhüte.
Und wie nicken schon von Weitem zur Begrüßung
die langbärtigen polnischen Juden, die hoch oben auf
ihren Heu- und Strohwagen sitzen in ihren langen
Kaftans und den schwarzseidenen Schirmmützen, unter
welchen die propfenzieherartig gedrehten Locken, die
Papes, hervorbaumeln.
Ja, selbst der Herr Bergrath verfehlt nicht, wenn
er vorüberfährt, dem alten Lustig die Hand zu reichen
und sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
Daß es Lustig in seiner Militärlaufbahn nicht
Hest 2l.
weiter als bis zum Lieutenant gebracht hat, das ist
nicht seine Schuld, sondern die der ewigen Friedens-
verhältnisse, die während seiner Dienstzeit herrschten.
Damals nahm man mit Ehren und grauem Kopf im
Anfänge der fünfziger Lebensjahre noch als Lieute-
nant seinen Abschied, erhielt eine Aussicht auf An-
stellung im Staatsdienst und Pflegte dann eine Familie
zu gründen. Auch Lustig war 'diesem laudcsüblichcu
Programme gefolgt, und wenn seine Frau auch bald
starb, so hinterließ sie ihm doch den Blondkopf Lott-
chen, der mitten im Walde unter des Vaters sanfter
Obhut zu einem prächtigen Mädchen herangewachscn war.
Wer sich für Lottchen interessirt, der findet sie augen-
blicklich aus einer Rasenbank in dem bereits erwähnten
Garten, wo sie mit der höchst prosaischen Thätigkeit
des Mohrrübenputzens beschädigt ist. Alles an ihr
athmet Wald und Waldesduft, so erklärte nämlich
neulich unter den furchtbarsten Betheuerungeu der Feld-
messer Stegemeper, über den das unheimliche Gerücht
im Umlaufe ist, er mache Gedichte, eine Verdächtigung,
die im oberschlesischen Jndustriebezirk zu den denkbar
schwersten gehört.
Und in der That, Lottchen sah wie ein echtes Wald-
kind aus mit den langen blonden Zöpfen, den blauen
Augen, frischen Wangen und der drallen, mittelgroßen
Gestalt. Es war ein Vergnügen, ihr bei der Arbeit
zuzuschauen.
Und es sah ihr in diesem Augenblicke Jemand zu.
Gedeckt durch Unterholz, stand vielleicht fünfzehn Schritte
vom Gartcuzaun entfernt, unmittelbar an: Rande des
Waldes, der Rcvierförster Schwelm und blickte unver-
wandt nach dem mohrrübenschabenden Lottchen hinüber.
Diana, seine schwarze Vorstehhüudin, für gewöhn-
lich abgekürzt „Dia" genannt, hat den Auftrag be-
kommen, sich ruhig zu Verhalten, und deshalb sieht sie
ganz verständnißinnig ihren Herrn aus den Augen-
winkeln an, hin und wieder blinzelnd und unablässig
die lange Ruthe hin und her schwenkend.
„Heut thu' ich's!" murmelte Schwelm. „Hol'mich
Dieser und Jener, wenn ich's nicht thue!"
Dann rückte er die herabgeglittene Büchse höher
auf die Schulter hinauf und kam aus dem hohen Holze
direkt auf den Gartenzaun los.
Er sah ganz düster und entschlossen aus, sein
Herz Plante aber nichts Schreckliches. Ganz im Geaeu-
theil.
Der wackere Schwelm war als Forstmann wie als
Mensch überall geschätzt. Seine besondere Stärke be-
stand in der Erzählung. Da konnte sich von den zahl-
reichen Forstbeamten der Herzöge tm Ujest und Ratibor,
des Herrn v. Thiele-Winckler und des Fürsten v. Pleß
keiner mit Schwelm messen. In der Erzählung von
Jagdgeschichten reichte ihm keiner das Wasser. Man
sei nicht etwa voreilig und halte Schwelm für einen
gewöhnlichen Jägerlateiner. Zu lügen und ungeheuer-
liche Jagderlebnissc zu erzählcu, das ist keine Kunst,
aber so zu erzählen, wie Schwelm dies that, w.,. ein-
fach phänomenal.
Er hatte eine Art und Weise, ll Zeugung zu
heucheln und Glauben zu erwecken, daß Jeder, der ihm
znhörte, fest an das glaubte, was ihm der Weidmann
vortrug, und erst wem: dieser mit schwungvollem Schluß
seine Erzähluug beendet hatte, kam das -Opfer dazu,
sich langsam zu besinnen und die Ansicht zu gewinnen,
daß cs doch nicht ganz richtig mit der Geschichte sei,
die es eben gehört.
Schwelm also kam, begleitet von Dia, auf den
Gartenzaun los und machte immer kleinere Schritte,
je näher er kam, denn der Empfang, der ihm von
Lottchen Lustig zu Theil wurde, war keiueswegs cr-
muthigcnd. Sie sah nämlich den Weidmann nicht,
trotzdem sie ihn eigentlich sehen mußte.
Sie blickte unablässig ans ihr Gemüse, und Jägers-
mann und Hund schienen für sie gar nicht vorhanden
zu sein.
(Forschung folgt.)
Milgeiistärlrung.
(Siche das Bild auf Seite 481.)
„Einen Schluck in Ehren, darf Niemand wehren," denkt
der wackere Meister ans dem mit gutem Humor und großer
Naturtreue ausgesührten Bilde von W. Löwith, das wir auf
Seite 481 im Holzschnitt reprodnziren, wenn ein leises Mahnen
in seinem Magen ihn daran erinnert, diesem die gewohnte
Stärkung zu Theil werden zu lassen. Er läßt daher die
Arbeit einen Augenblick ruhen, und wie Doktor Faust die
mit dem „braunen Safte" gefüllte krystallene Phiole, so holt
er nun „mit Andacht" die Flasche mit dem kräftigen Destillat
aus der Wandnische herunter. So sehen wir ihn mit dem
vorgebundeuen Schurzsell und der schwarzen Mütze auf dem
Kopfe dastehen, wie er vorsichtig mit gespannter Aufmerksam-
keit sein Gläschen aus der Flasche füllt, wobei sich über sein
faltiges, gutmüthiges Gesicht) bereits ein Vorgeschmack von
dem Genüsse dieser Magenstärkung verbreitet, welchen Aus-
druck der Künstler ganz vorzüglich getroffen hat.