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86

Geliebten meiner Schwester. Sollte man dem Kerl
nicht Stockprügel für sein Geschreibsel geben?"
„Nur ruhig, lieber Freund!" ermahnte der Graf.
„Laß doch den Leuten ihr Vergnügen. Der Mann
glaubt eben seinen Lesern für den Soldo, den sie für
die Zeitung bezahlen, einige interessante Neuigkeiten
schuldig zu Zein. Die Millionen, von denen er spricht,
kosten ihn ja nichts. Sage mir lieber, ob Deine L>chwester
bestimmt heute nach Neapel kommt."
„Elf Uhr dreißig. Sie kommt mit meinem Vater."
„Ist Deine M:ttter noch immer krank?"
„Leider ja, das ist ja eben das Unglückliche an der
ganzen Sache. Wäre meine Mutter nicht gerade jetzt
krank, so —"
Attilio brach ab, und Graf Tozzo sah ihn auf-
merksam an.
„Wie? Was willst Du sagen?"
„Nichts. Wir müssen auf die Bahn. Kommst Du
nut?"
„Wenn Du mich mitnimmst, selbstverständlich."

Herzog Cesare hatte das Frühstück um ein Uhr in
seinen: Palast in Neapel befohlen. Der um elf Uhr
dreißig Minuten fällige Zug traf auch mit gewohnter
Pünktlichkeit aus Kalabrien in Neapel ein, das heißt
er hatte eine Verspätung von einer stunde und zwanzig
Minuten. Man war das gewöhnt, und schon deshalb
hatte Herzog Cesare fein Frühstück um ein und eine
halbe Stunde später bestellt. Er kam nut seiner Tochter
Cesina, um der Vorstellung im Theatro San Carlo,
die zum Besten der Armen in Neapel gegeben wurde,
beizuwohnen, und wurde am Bahnhof von Attilio und
Graf Tozzo abgeholt.
Herzogin Cesina strahlte vor Liebenswürdigkeit und
munterer Frische. Graf Tozzo machte ihr in einer so
seinen Weise und mit so energischer Ausdauer den Hof,
daß sie an feinen Absichten auf ihre Hand nicht mehr
zweifeln konnte.
Nach dem Mahle, an dein auch Graf Tozzo theil-
nahm, gab Herzog Cesare vor, einen Besuch bei seinen:
Bankier machen zu müssen und später vielleicht auch
den Staatsanwalt Ghilazzi nufsuchen zu wollen.
„Und Du, Cesina?" fragte Attilio feine Schwester,
„was willst Du thun?"
„Ich?" fragte diese unschuldig zurück. Dann streifte
ihr Blick wieder in einer leicht kokettirenden Weise den
Grafen Tozzo. „O ich —"
„Ich würde eine Spazierfahrt auf dem Korso Vor-
schlägen," warf Gras Tozzo ein.
„O ja," rief Cesina lebhaft. „Das wollen wir
thun; natürlich wenn Dir's recht ist, Attilio."
„Mir ist Alles gleichgiltig. Ich will gehen und den
Wagen bestellen," sagte dieser und ging auch sofort davon.
Für kurze Augenblicke blieben Herzogin Cesina und
Graf Tozzo allein. Cesina zitterte leicht, und ihre Augen
sprühten und leuchteten in einer ungewöhnlichen Auf-
regung. Aber sie zwang sich zu einen: gleichgiltigen,
gelassene:: Aeußern und sagte: „Herr Graf, Sie könnte::
mir einen recht großen Gefallen erweisen. Wollen Sie?"
Graf Tozzo machte seine verbindlichste Verbeugung.
„Es ist mein sehnlichster Wunsch, Ihnen gefällig fein
zu können, Herzogin Cesina."
Sie sah ihn flüchtig an und reichte ihm dankend
langsam die Hand, die er lebhaft küßte.
„Ich weiß nicht, ob ich mich täusche," fuhr sie nach
einer kleinen Pause fort, „aber es will mir scheinen,
als ob Attilio seit einiger Zeit von einer eigenthümlichen,
höchst befremdenden und bedauerlichen Nervosität be-
fallen wäre. Scheint Ihnen das nicht auch so?"
„Wenn ich offen sein soll, so muß ich allerdings
sagen, daß Attilio sich sehr verändert hat. Er ist oft
zerstreut, ganz ohne sichtbaren Grund aufgeregt, zornig,
wo er sonst gleichmäßig heiterer Stimmung gewesen
ist. Ich muß gestehen, denselben Eindruck empfangen
zu haben, wie Sie selbst, meine Gnädigste."
„Und wissen Sie keinen Grund dafür?"
„Ich bedaure außerordentlich, Herzogin, Ihnen keinen
angeben zu können. Ich habe Attilio schon selbst be-
fragt, ob er unwohl sei, oder ihm sonst etwas fehle,
aber er hat mir geantwortet, ich befände mich im Jrr-
thum, er sei wie immer, und es fehle ihm nichts."
„Herr Graf, Sie verheimlichen mir nichts?" fragte
sie bittend.
„Bei meiner Ehre," betheuerte er eifrig, „ich wüßte
Ihnen nichts zu sagen."
„Und doch hat Attilio einen inneren Kummer, eine
Sorge, die ihm die Ruhe raubt. Ich kenne ihn wohl.
Ich sehe an seinem Auge, daß ihn etwas bedrückt, was
er mir verbirgt. Und ich würde so gern helfen, wenn
ich könnte. Ich habe ihn so lieb."
„Ich werde mit ihn: reden, wenn Sie gestatten."
„O, ich bitte Sie sogar darum, Herr Graf. Setzen
Sie ihn: den Kopf zurecht und sagen Sie ihn:, daß er
nicht allein leidet. Wollen Sie, Herr Graf?"
„Ob ich will! Ich bin glücklich, Ihnen gefällig sein
zu können, meine Gnädige."
„Ich danke Ihnen, Graf," sagte sie mit warmem
Ton und reichte ihm nochmals die Hand zum Kuß.

Das Buch für Alle.

Helt 4.

In diesem Augenblick kau: Attilio zurück. „Wir
wollen gehen," sagte er, ohne aufzusehen, „der Wagen
steht unten."
Wenige Minuten darauf stieg man ein. Attilio
nöthigte den Grafen Tozzo, neben Cesina Platz zu
nehmen, während er sich auf den Rücksitz setzte.
Man fuhr durch die Chiaja nach der herrlichen
Promenade hinunter, die sich zwischen der Villa nazionale
und dein Meeresufer bis hinaus nach dein Posilippo
hinzieht. Es war ein wunderbarer Tag. Die Hitze
hatte etwas nachgelassen, und der leise Wind, der von:
Meere her über die üppigen, mit tropischer Vegetation
bedeckten Ufer strich, wirkte erfrischend und belebend.
Reizend hob sich das dunkle, glitzernde Blau des Golfes
von dem kräftigen, saftigen Grün der Palmen und
Pinien der Gärten und öffentlichen Anlagen ab, in der
Ferne tauchte der steile Fels der Insel Capri aus den
Wogen empor, während der mit zierlichen weißleuchten-
den Landhäusern bedeckte Posilippo sich allmälig ab-
senkend in das Meer verlor. Dazu eine Fülle glänzen-
der Equipagen und eleganter Fußgänger, die Alle, die
Abendluft genießend, sich nur langsam aneinander vorbei-
schoben, plaudernd, lachend, sich freuend der herrlichen
Natur, in der sie wandeln durften — ein Bild, wie
es Europa nicht ein zweites Mal bietet, ein Bild des
wohligsten, größten Luxus und Wohllebens neben den:
tiefen Elend und grenzenlosen Jammer der armen Leute
in: alten Neapel.
„Und Du hast Deinen Kasten noch immer nicht
wieder gefunden, Cesina?" rief Attilio gereizt, nervös und
heftig, fast als wollte er ihr daraus einen Vorwurf
machen.
„Mein Gott, nein. Wie kann ich ihn auch wieder-
finden, wenn er fort ist? Wir haben gesucht in allen
Winkeln und Ecken. Er ist nicht da. Er ist gestohlen."
„Welch' ein Unsinn, immer gleich von einen: Dieb-
stahl zu reden. Ich will wetten, Du hast den Kasten
verlegt und wirst ihn gelegentlich wieder finden. Ich
begreife nicht, wie Papa die Sache so tragisch nehmen
kann! Du solltest ihm das auSreden, Cesina!"
Er sprach heftig, in kurz abgerissenen Sätzen. Seine
Schwester sah ihn ängstlich an.
„Aber wie kann ich denn dein Papa etwas aus-
reden, Attilio! Papa weiß doch wohl besser, was zu
thun ist, als ich."
„Gleichviel. Es ist ein Unsinn, den ihr angestellt
habt. Ich denke, mich trifft der Schlag, als ich die
ganze Bescheerung in der Zeitung lese. Nächstens komme
ich nach Positano, und ich will mich hängen lassen,
wenn ich den Kasten nicht finde."
Graf Tozzo machte eine leise Bewegung, und Ce-
sina wechselte mit ihn: einen bedeutsamen Blick.
Man schwieg eine lange Zeit und fuhr immer
weiter, langfam, Schritt für Schritt sich an den übrigen
Karossen gleichsam vorbeischiebend, sich gegenseitig be-
trachtend und grüßend.
Die Sonne senkte sich tiefer und tiefer, und die
Ufer und Inseln warfen immer längere Schatten
auf die in den: lebhaftesten Farbenspiel leuchtenden
Wogen.
Plötzlich beugte sich Attilio weit aus den: Wagen
heraus, seine Züge drückten Ueberraschung und Staunen
aus, seine Augen, die kurz vorher noch in einer ge-
wissen zerstreuten Unruhe hin und her flackerten, nahmen
einen sichtbaren Ausdruck der Bewunderung an und
leuchteten mit der Kraft des echten Südländers in einen:
Entzücken, einer Freude, einer Seligkeit auf, als ob er
einen Blick in das Paradies gethan habe.
„Emilio!" rief er heftig. „Siehst Du den mit
Schimmeln bespannten Wagen dort?"
Graf Tozzo folgte mit den Augen der angegebenen
Richtung, in welcher die Wagen auf der anderen Seite
der Straße einer hart am anderen dahinfuhren. Er
war selbst neugierig, zu sehen, was wohl Attilio plötz
lieh so in Anspruch genommen hatte.
„Das?" sagte er etwas enttäuscht, „das ist der
Bankier Bertini mit seiner Gemahlin."
„Den meine ich ja nicht. Siehst Du dort den
Commendatore Giussi mit seiner Schwester?"
„Ja. Und was weiter?"
„Hinter ihn: kommt ein Wagen mit Schimmeln.
Wer sitzt darin?"
„Das scheint nur der niederländische Konsul zu
sein, Herr Manuel de Vries."
„Und jene Lichtgestalt neben ihm?" fuhr Attilio be-
geistert und hingerissen fort.
„O, o!" machte Cesina etwas spöttisch. Sie konnte
nicht sehen, umhin ihr Bruder deutete, und wollte sich
über den ihr unverständlichen plötzlichen Enthusiasmus
ihres Bruders etwas lustig machen.
„Ah ja!" meinte jetzt Graf Tozzo beifällig, „das
ist Fräulein Elvira de Vries, ein blonder Engel aus
Amsterdam."
„Seit wann stammen denn die Engel aus Amster-
dam?" fragte Cesina, noch immer nut einen: kleinen
spöttischen Lächeln.
Attilio bemerkte es nicht. „Seine Tochter?" fragte
er weiter, ohne auch nur einen Blick von der jungen

Dame zu verwenden, die in blonder, nordischer Zart-
heit neben dein Konsul saß.
„Nein, ich glaube seine Nichte; jedenfalls eine Ver-
wandte von ihm. Sie ist erst seit kurzer Zeit in Neapel.
Sie kommt aus Deutschland, wo sie erzogen worden ist.
Ihre Eltern sind, soviel ich weiß, todt. Ich habe sie
vor Kurzem ganz flüchtig bei einer Abendunterhaltung
im P.üazzo Toreno gesehen."
„Welche Schönheit, welche zarte, feine Grazie! Sieht
sie nicht aus wie eine Elfe?"
„Sie ist ohne jede Frage eine große Schönheit und
macht hier im Süden besonders Eindruck, weil ihre
zarte Gesichtsfarbe, ihr feines, lichtblondes Haar sich von
unseren: bräunlichen Teint und schwarzen Haaren vor-
theilhaft abhebt."
„Fahr' doch langsam!" rief Attilio dein Kutscher
aufgeregt zu.
„Kann inan denn das Wunder nicht auch einmal
betrachten?" fragte Cesina neugierig. Sie schien es den
! Herren fast übel zu nehmen, daß sie sich in Lobes-
erhebungen einer fremden Schönheit ergingen, während
sie dabei saß.
„Jetzt kommt ihr Wagen näher," sagte Attilio wieder
leise und aufgeregt. „Grüße, Emilio! Du mußt mich
ihr vorstellen, hörst Du?"
„Aber doch nicht hier auf dem Korso? Du mußt
warten, bis sich eine Gelegenheit bietet. Vielleicht heute
Abend in: Theater."
Jetzt kam der Wagen des Herrn de Vries langsam
näher und fuhr eine kleine Weile neben dein des Her-
zogs Attilio. Graf Tozzo zog grüßend den Hut. So-
fort flog auch der des jungen Herzogs von: Haupte und
seine Blicke hafteten wie zwei Strahlen auf dem jungen
Fräulein de Vries. Sie schien die Aufregung des
jungen Herrn zu bemerken und verbeugte sich anmuthig
grüßend, um ein leichtes Lächeln, das auf ihre rosigen
Lippen trat, zu verbergen. Auch Herr de Vries nickte
aus seinen: Wagen herüber, und Cesina dankte für
den Gruß mit einen: leichten Senken des Kopfes.
„Man wird Sie heute Abend sehen, Herr de Vries?"
fragte Graf Tozzo, als die Wagen hart neben einander
sichren, so daß er dem Herrn die Hand reichen konnte.
„Jin San Carlo?" fragte Herr de Vries zurück.
„Ja. Sie werden dort fein?"
„Jedenfalls."
„Auf Wiedersehen also!"
Dann fuhr der Wagen des Herrn de Vries in seiner
Reihe weiter, und Attilio schaute Fräulein de Vries
nach, stumm und wortlos, wie einer himmlischen Er-
scheinung, einem Wunder. Er hatte vielleicht geglaubt,
die junge Dame würde einen Anlaß nehmen, um sich,
wenn auch nur flüchtig, noch einmal umzuschauen. Aber
sie blieb unbeweglich neben ihren: Onkel sitzen, und
Attilio zog und zerrte ungeduldig an seinen: Schnurrbart.
Cesina beobachtete ihn sehr genau und lächelte. „Du
bist ja plötzlich ganz Feuer und Flamme, Attilio!" neckte
sie ihn.
„Cesina," sagte er leise und mit einen: ungewöhn-
lich warmen und innigen Tone, „hast Du mich lieb?"
„Zweifelst Du daran, Attilio?"
Er rückte näher zu ihr heran. „Nun denn, dort
führt n:e:n Glück, Cesina. Verstehst Du, was ich meine?"
„Ich glaube wohl. Ich soll Dir helfen?"
„Ja," kam es zitternd von seinen Lippen. Er war
in einer schwärmerischen Aufregung, in einer seligen
Verzückung, wie ihn Cesina noch nie gesehen hatte.
Cesina drückte ihm die Hand. Sie fühlte, daß diese
Begegnung für ihren Bruder ein Ereigniß von ganz
unberechenbarer Tragweite geworden war.
Bald daraus wendete sich der Wagen zur Heimkehr.
Ain Eingang zum Palazzo dei Tibaldi verabschiedete
sich Graf Tozzo von den beiden Geschwistern; Attilio
bat ihn noch, ja nicht zu spät in's Theater zu kommen.
Cesina gab ihn: ihre Hand. „Sie vergessen nicht,
was Sie nur versprochen haben," sagte sie leise.
„Sie dürfen unbedingt auf mich zählen, und zwar
noch heute Abend, gnädigste Herzogin."
Dann ging er fort, während Cesina mit ihren:
Bruder die breiten Marmortreppen des alten Palastes
hinaufstieg.

Glsi'tes Kcrpikel'.
Das Theater San Carlo in Neapel, eines der
größten und prächtigsten Theater der Welt, hatte seine
Pforten, die sonst nur in: Winter, während des Kar-
nevals, geöffnet find, ausnahmsweise für einen Abend
zu einer Wohlthätigkeitsvorstellung erschlossen, und die
ganze vornehme Gesellschaft von Neapel hatte sich ein-
gefunden.
Es fehlten noch einige Minuten an neun Uhr,
der gewöhnlichen Anfangszeit der Vorstellungen, aber
schon waren die fünf sich übereinander thürmenden
Logenreihen nut einen: glänzenden Publikum gefüllt,
das der Dinge harrte, die da kommen sollten. Die
Damen, meist in Weiß gekleidet, saßen in: Vorder-
gründe der Loge, die Herren, fast durchgehends in:
schwarzen Frack, standen hinter ihnen. Der Zuschauer-
 
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