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Ljtlt 4.
raun: mit seinen Hunderten von elektrischen Lampen
bot einen um so anziehenderen Anblick, als nicht lang-
weilige Sitzreihen das Publikum aneinander pferchten,
sondern der ganze Raum in einzelne Logen abgetheilt
ivar, die mit ihrer Tiefe ebenso viele kleine Salons
zu sein scheinen, in denen sich die Insassen heiter plau-
dernd unterhielten und sich auch auf bequemen Korri-
doren, welche die Logen im Hintergrund verbände::,
einander Besuche abstatteten.
Im Vestibül des Theaters ging Herzog Attilio mit
fieberhafter Ungeduld auf und ab. Endlich, kurz vor
neun Uhr, erblickte er den Grafen Tozzo, der soeben
in das Theater eintrat.
„Herr des Himmels, wo bleibst Du so lange!" fuhr
Attilio den Ankommenden an. „Sie sind schon d'rin.
Denke Dir, Emilio, der Konsul de Vries hat seine
Loge in derselben Reihe wie wir. Er hat Nummer
fünfzehn, wir Nummer neun. So nahe beieinander und
ich habe ihr noch nicht einmal guten Abend sagen
können!"
„Dazu hast Du noch den ganzen Abend Zeit," be-
sänftigte ihn Graf Tozzo.
„Du mußt mich gleich vorstellen, Emilio! Willst
Du? Wozu sollen wir denn damit noch warten?"
„Ach, das hat ja Zeit bis nach den: ersten Akt.
Ich habe zunächst eine kleine Auseinandersetzung mit
Dir."
„Aber ich bitte Dich, laß doch jetzt alle langweiligen
Geschichten. Was willst Du denn von nur?"
„Höre mir nur einmal vernünftig zu. Ich habe
mit Dir etwas sehr Ernstes zu reden und zwar als
alter guter Freund, der ein Recht hat, Dich nach Din-
gen zu fragen, über die zu reden Du einem Fremden
wohl nicht erlauben würdest."
„Also los! Was ist's? Mache doch nicht soviel
unnütze Worte."
Sie waren schon in dem Korridor, der nach der
Loge des Herzogs Cesare hinführte. Gras Tozzo blieb
jetzt wieder stehen, faßte Attilio fest am Arm und sah
ihm ernst in's Auge.
„Was ist mit Dir, Attilio?" fragte er ihn mit
schwerer, gewichtiger Betonung, „Du bist seit einiger
Zeit nicht mehr der Alte. Dich quält und peinigt
etwas, Dich drückt eine Sorge, die Dir keine Ruhe
läßt, Dich nervös und krank macht, mehr als Du es
vielleicht selbst denkst oder Dir eingestehen willst. Darf
ich es als Dein Freund, der gern hilft, wo er kann,
nicht wissen?"
„Ach, das ist ja Alles Unsinn! Komm doch. Ich
erzähle Dir die Geschichte gelegentlich einmal. Jetzt
aber laß uns keine Zeit verlieren. Du weißt nicht,
was mir die Minuten jetzt sind."
„Ich weiß das sehr wohl. Für Dich sind die
Minuten genau das, was sie für jeden Anderen sind.
Nur Deine Einbildung macht sie zu etwas Wichtigerem,
und eben deshalb sollst Du mir jetzt Antwort geben
und zwar ehe ich Dich dort vorstelle."
„Ehe Du mich Fräulein de Vries vorstellst?" fragte
Attilio etwas betroffen. „Wie kommst Du gerade
darauf?"
„Weil ich weiß, daß ich auf diese Weise mein Ziel
erreiche. Ich habe Deiner Schwester versprochen, Dir
gehörig zu Leibe zu gehen. Cesina macht sich Sorge
um Dich. Ihr ist Dein zurückhaltendes, scheues und
zerstreutes Wesen aufgefallen, und sie ist auf die Idee
gekommen, daß darin eine Gefahr für Dich besteht,
die Du vielleicht selbst noch nicht genau kennst, oder
doch nicht richtig würdigst."
„Sage ihr, daß durchaus keine Gefahr für mich
vorhanden ist."
„Nein, ich werde ihr das nicht sagen, so lange ich
nicht die volle Ueberzeugung davon habe, und diese habe
ich bis jetzt noch nicht. Im Gegentheil. Deshalb sei
offen und ehrlich gegen mich, Attilio! Was bedrückt
Dich? Hast Du Schulden? Bist Du krank? Oder-
hast Du irgend einen Ehrenhandel, ein Duell oder
dergleichen vor? Sei es, was es sei, sage es mir!
Es gibt gefährliche Geheimnisse, Attilio, welche, indem
wir sie verbergen wollen, uns immer tiefer und tiefer
in Angelegenheiten, Lügen und Verwirrung bringen.
Hörst Du mich, Attilio? Ich lasse Dich nicht los/bis
Du mir sagst, was Dich quält, um unserer Ruhe und
um Deiner Sicherheit halber."
Nun blieb Attilio nachdenklich stehen und sann einen
Augenblick nach.
„Nun?" fragte Graf Tozzo wieder.
„Gut, Emilio, Du sollst Alles wissen, aber nur
nicht heute, nicht jetzt. Wenn Du wüßtest, wie furcht-
bar, wie entsetzlich es mir wäre, gerade jetzt den ganzen
Wust von Mißverständnis; und Anglück, in dem ich
mich befinde, zu erklären, gerade jetzt, wo ich vor —
vor der Himmelsthür stehe und ganz andere Dinge im
Kopfe habe. Komme morgen zu mir, Emilio, oder
übermorgen, und Du sollst Alles wissen, nur nicht
jetzt!"
„Also morgen, Attilio?"
„Morgen!"
„Dein Ehrenwort darauf?"

Das V u ch f ü r A l l e.
„Mein Ehrenwort!"
Er gab ihm die Hand, und Emilio schaute ihm fest
in's Auge, das thränenfeucht leuchtete.
„Gut. Ich verlasse mich aus Dein Wort. Komm."
Man gab „Atda" von Verdi. Eben begann das
kurze Vorspiel, das man im Korridor, der hinter der
Logenreihe hinlisf, sehr genau hörte.
„Hier ist Nummer fünfzehn, Emilio. Poche an."
„Nicht jetzt. Wir müssen nun doch den Zwischen-
akt abwarten, Du wirst Fräulein de Vries nicht um
einen musikalischen Genuß bringen wollen. Komm zu
Deinen: Vater und Deiner Schwester."
Mißmuthig soll te ihm Attilio. Als sie in die Loge
eintraten, saß Cesina in einer wundervollen Abendtoilette
ans mattgelbem Mousselin mit rothem Seidenaufputz
im Vordergrund der Loge und hörte anscheinend auf-
merksam der Musik zu. Im Hintergrund der Loge
saß Herzog Cesare und unterhielt sich leise mit dein
Staatsanwalt Ghilazzi.
Aergerlich warf Attilio seinen Hut in einen Sessel
und murmelte leise: „Nun auch das noch!"
Graf Tozzo setzte sich zu Cesina.
„Ich bedauere, Herr Herzog," hörte Attilio den
Staatsanwalt leise zu seinen: Vater sagen, „daß ich
Ihnen positive Resultate meiner Nachforschungen heute
noch nicht melden kann. Aber vielleicht ist das schon
morgen möglich. Wenn Sie deshalb morgen noch in
der Stadt bleiben —"
„Gewiß werde ich noch dableiben und auch über-
morgen und die ganze Woche, wenn Sie glauben, daß
das zu etwas nützt."
„Es wäre mir jedenfalls sehr erwünscht. Ich war
nämlich heute beim alten Castaldi. Der Verdacht, in
den sich sein Sohn, Don Luigi, gebracht hat, führte
mich auf die Idee, daß der alte Castaldi vielleicht mehr
von der Sache wissen könnte, als inan denken sollte.
Und ich glaube auch, daß ich mich nicht getäuscht habe.
Jedenfalls habe ich erfahren, daß Don Luigi seit ge-
stern wieder in Neapel ist und mit seinem Vater von
der Angelegenheit gesprochen hat."
„Sie haben ihm aber nicht gesagt, daß sein Sohn
verdächtig ist?"
„Selbstverständlich nicht. Im Gegentheil suchte
ich ihn dadurch sicher zu machen, daß ich mich ange-
legentlich nach Checco erkundigte, der auf ganz räthsel-
hafte Weise aus Neapel verschwunden ist. And hier
kommt noch ein weiteres Verdachtsmoment. Er hat
mir versprochen, den Burschen auszukundschaften. Daraus
geht zunächst hervor, daß auch er bemüht ist, Checco
als den Schuldigen hinzustellen."
Aergerlich wandte sich Attilio von dem Staatsan-
walt ab und ging nach dein Vordergrund der Loge.
Er wollte von der Geschichte nichts mehr hören und
setzte sich neben Graf Tozzo, sah aber nicht nach der
Bühne, wo jetzt die alten egyptischen Priester und Krieger-
in: feierlichen Schritt herumzogen, sondern rückwärts
in den Zuschauerraum. Mit den: Operngucker suchte
er in dem Halbdunkeln Haus die hinter ihm liegenden
Logen ab, und endlich fand er, was er suchte: Fräulein
de Vries. Ihre zarte Gestalt, die sich wie eine Fee
von dem Halbdunkel abhob, lag leicht vornüber gebeugt
auf der Logenbrüstung. Sie schien den Vorgängen
auf der Bühne mit großer Aufmerksamkeit zu folgen.
Er ließ sie nicht aus den Augen und verwünschte inner-
lich die Langsamkeit, mit der die Sänger aus der Bühne
ihre verschiedenen Arien und Recitative heruntersangen.
Er hätte in diesem Augenblick für ein einziges Wort
aus jenen fein gewellten, zartrosigen Lippen das ganze
alte Egypten mit allen Mumien und Alterthümern
und wer weiß was sonst noch obendrein gegeben.
Endlich fiel aber der Vorhang doch, und Attilio
stand rasch auf.
„Komm!" fagte er zu Graf Tozzo.
Dann verließen die beiden jungen Männer die Loge.
Wenn Fräulein Elvira de Vries durch ihre Erschei-
nung in Neapel allgemein auffiel und auch gefiel, so
war doch das nicht auch umgekehrt der Fall. Die
Neapolitaner imponirten ihr nicht. Wenn sie auch von
den landschaftlichen Schönheiten Neapels mit großen:
Enthusiasmus sprach und dieses „von: Himmel gefallene
Stück Erde" mit der frischen, berauschenden Eindrucks-
fähigkeit der Jugend genoß, so gefielen ihr doch die
Neapolitaner selbst in ihrer schmutzigen Habgier, in
ihrer Leidenschaftlichkeit und Rücksichtslosigkeit, mit der
sie ihre Zwecke verfolgen, mit ihrer mangelhaften Er-
ziehung und ihrer noch :nengelhafteren Moral durch-
aus nicht.
Fräulein de Vries war seit vier Wochen in Neapel.
Sie war Holländerin und kau: direkt aus einer deutsche::
Pension, wo sie erzogen worden war. Sie hatte, wie
man zu sagen pflegt, noch reinliche Begriffe und war
empört, die Welt nicht so zu finden, wie man sie sich
in einen: Mädchenpensionat denkt. Je strenger, sorg-
fältiger und tadelloser ihre eigene Erziehung gewesen,
um so entrüsteter war sie über die Mängel von Welt
und Menschen, und nirgends waren ihr diese so groß
erschienen, als bei den Neapolitanern.

„Elvira!" rief sie ihr Onkel plötzlich aus der wei-
chen Träumerei auf, in die sie die eben gehörte phan-
tastische Musik versenkt hatte. Hastig wandte sie sich
um und sah die beiden Herren wieder vor sich stehen,
die ihr schon heute Nachmittag auf dem Korso durch
ihre übertriebene Höflichkeit ausgefallen waren.
„Graf Tozzo, den Du ja schon kennst," fuhr ihr
Onkel fort, „wünscht uns feinen Freund, Herrn Herzog
Attilio dei Tibaldi, vorzustellen. Bitte, nehmen Sie
Platz, meine Herren. Das ist meine Nichte, Elvira
de Vries. Sie spricht noch schlecht italienisch. Sie
werden Rücksicht mit ihr haben müssen."
Herr de Vries war ein vollständiger Weltmann.
Mit einer gewissen gutmüthigen Vertraulichkeit überhob
er die jungen Herren jener etwas steifen Förmlichkeit,
die sonst gewöhnlich in peinlicher Weise solche Vorstel-
lungsscenen beeinträchtigt, und Herzog Attilio nahm
keinen Anstand, sich neben Fräulein de Vries nieder-
zulassen.
„Wenn ich nicht irre, Herr Herzog," begann Fräu-
lein de Vries das Gespräch, „so habe ich Sie heute schon
gesehen."
„Und ich habe Sie bewundert, gnädiges Fräulein,"
entgegnete er.
„Weshalb?" fragte sie naiv.
„Weil noch nie Jemand beim ersten Anblick einen
so tiefen Eindruck auf mich gemacht hat wie Sie, Fräu-
lein de Vries."
„Einen guten Eindruck?"
„Einen hinreißenden."
„O, Herr Herzog! Sie wollen mir Schmeicheleien
sagen. Soviel ich weiß, habe ich noch nie Jemand —
hingerissen."
„Dann bin ich eben der Erste."
„Das bezweifle ich sehr."
„Sie glauben mir nicht?"
„Ich werde mich wohl hüten/"
„Was muß ich thun, mein gnädiges Fräulein, da-
mit Sie mir glauben?"
„Aber, Herr Herzog, ich darf das nicht glauben,
und streng genommen, dürfen Sie es mir auch nicht
sagen."
„Soll ich denn lügen, wenn Sie mich darnach
fragen?"
„Man spricht nicht so gerade zu."
„Nicht? Und mir ist zu Muth, als müßte ich es
über alle Dächer Hinwegschreien."
„Aber, Herr Herzog! Weiter fehlte nichts!"
„O doch! Es fehlt dazu noch, daß Sie mir es
auch glaubten. Bin ich Ihnen fo wenig vertrauens-
würdig, gnädiges Fräulein?"
Seine vollen dunkeln Augen lagen mit einer ge-
wissen zarten Dringlichkeit und Hingebung auf ihrer
Gestalt, und wie er so mit direkter, bittender Stimme
fragte, machte er einen liebenswürdigen Eindruck, den:
sich auch Fräulein de Vries offenbar nicht entziehen
konnte. Aber sie war vorsichtig genug, sich nichts da-
von merken zu lassen. Sie schlug die Augen nieder
und sagte leise: „Sie glauben sich vielleicht morgen
selbst nicht mehr, Herr Herzog. Was so rasch auf-
flackert, verlöscht leicht."
„Das Gleichnis; hinkt, mein Fräulein. Es handelt
sich nicht um ein armseliges, windiges, schlecht genährtes
Flackerseuer, das jeder Luftzug verlöscht. Stellen Sie
mich auf die Probe. Wollen Sie?"
Sie wich ihm aus. „Wer ist die junge Dame dort
in Ihrer Loge, Herr Herzog?" fragte sie.
„Meine Schwester Cesina, meine Gnädigste. Darf
ich Sie mit ihr bekannt machen? O bitte!"
„Ich weiß ja nicht, ob Ihre Schwester das wünscht."
„Aber ich weiß, daß sie es wünscht."
„Haben Sie denn schon mit ihr davon gesprochen?"
„Den ganzen Abend."
Seine Art und Weise hatte etwas Kurzes, Kräftiges,
Entschiedenes, als ob er unter dem Zwange einer mu-
mühsam verhaltenen Leidenschaft handle. Das südliche
Blut arbeitete in ihn: mit einer Macht und Kraft, die
er nur schwer bezähmte. Fräulein de Vries merkte das
wohl. Sie spielte wie etwas verlegen mit ihrem Fächer,
lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schaute ihn von
Zeit zu Zeit verstohlen von der Seite an.
„Ihre Schwester ist noch nicht verheirathet?" fragte
sie wie ablenkend.
„Nein."
„Aber man hat mir doch gesagt, daß man in Neapel
verhältnißmäßig früh heirathet."
„Das thut inan auch, wenngleich es meine Schwester
noch nicht gethan hat. Und wie hält man es in Jhrer
Heimath, Fräulein de Vries? Würden Sie vorziehen,
früh oder spät zu heirathen?"
„Das hängt von den Umständen ab."
„Von welchen?"
„Es kommt bei einer guten Ehe nicht darauf an,
wann sie geschlossen wird, sondern wer sie schließt. Es
ist also nicht eine Zeit-, sondern eine Personcnfrage."
„Und wie müßte der beschaffen sein, der Sie zu
einer frühen Ehe oder überhaupt zu einer Ehe überreden
könnte?"
 
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