Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
186

Das Buch fü r A l l e.

Ljest rr.

vor sich hin, m:d in Gedanken führte sie weiter aus,
welch' unglücklicher Kontrast darin liege, daß in einem
solchen paradiesischen Lande ein so wild leidenschaft-
liches, unzuverlässiges, wohl begabtes, aber vollständig
vernachlässigtes Volk wohne. Sie dachte daran, welches
Glück, welche unendliche Seligkeit darin liegen würde,
wenn sie hier an der Seite eines Mannes leben könnte,
der ihr Empfinden ganz zu verstehen und zu theilen
vermöge. Sie dachte an Herzog Attilio-
Und plötzlich dröhnte durch die stillen Villen des
Posilippo die halb singende, halb brüllende Stimme
eines Zeitungsjungeiw „Il ratto äel cknea äoi 1'idaläi!
I lwiAUnti cki UositanoU
Erschrocken fuhr Fräulein Elvira auf. Was war
passirt? Was war Attilio zugestoßen? Hatten ihn die
Briganten von Positano fortgeschleppt?
Sie rief nach ihrem Kammermädchen und ließ sich
von der Straße herauf eine Zeitung holen.
Das Mädchen kau: rasch, aber für die Aufregung
Elvira's noch immer nicht rasch genug zurück, und ihre
Herrin stürzte ihr mit einer zitternden, athemlosen
Spannung entgegen. Sie las, daß nicht Attilio, sondern
sein Vater entführt worden war, daß Attilio nach
langem, heftigem Kampfe mit einer schweren, lebens-
gefährlichen Wunde hilflos in den Felsen liegen ge-
blieben sei und nun auf dem Schloß Positano zwischen
Tod und Leben schwebe.
Elvira weinte. Ja, sie liebte ihn, mit allen seinen
Fehlern und Mängeln, diesen feurigen, jungen Nobile
mit den dunkelblitzenden Augen, in denen eine Welt
von Liebe und Zärtlichkeit lag. In diesem Augenblick
zürnte sie ihrem Onkel, der sie in kalter, bedächtiger
Vorsorglichkeit von Attilio ferngehalten hatte.
Was wäre die Liebe, fragte sich die junge Dame,
wenn sie nicht über kleine Mängel hinwegküme? Darin
eben besteht ja ihre Kraft und ihre Seligkeit, daß sie
mit allen Fehlern und Mängeln liebt. Einen Gott zu
lieben, was wäre das für ein Verdienst?
Und nun lag er hilflos, zwischen Tod und Leben
auf seinem Schloß! Sie durfte nicht zu ihn: eilen,
nicht ihn pflegen, ihm auch nur einen tröstenden Hände-
druck, einen verheißenden Blick geben! Leise rollten
ihre Thränen über die zarten Wangen — sie merkte
es nicht.
Ihr Onkel trat auf den Balkon und fragte hastig
und erstaunt: „Was ist Dir, Elvira?"
„So weißt Du noch nichts? Da, lies!"
Damit reichte sie ihm schluchzend das Zeitungsblatt.
„O, ich habe das schon Alles gelesen. Aber wes-
halb weinst Du? Es wird nicht Alles so schlimm sein,
wie die Zeitungen sagen, und wenn auch, was können
wir dabei thun?"
Elvira erhob sich heftig und siel ihrem Onkel in
plötzlicher Aufwallung stürmisch um den Hals.
„Laß mich nach Positano!" rief sie leidenschaftlich
schluchzend.
„Aber, Kind! Was willst Du dort?"
„Ich will ihn sehen! Ich muß ihn sehen, mit ihm
sprechen, ihm Trost und Muth einsprechen. Du hast
ihn beleidigt."
„Ich habe ihn beleidigt? Ich habe gehandelt, wie
ein vorsichtiger Mann unter solchen Umständen handeln
muß."
„Eben Deine Vorsicht war eine Beleidigung. O,
laß mich nach Positano, Onkel! Ich halte es hier nicht
aus. Ich sterbe vor Aufregung."
„Aber was soll man davon denken, wenn ich so
ohne Weiteres —"
„Ich bin der Herzogin Cesina einen Besuch schuldig,
Onkel. Ich muß ihn abstntten, hindere mich nicht daran.
Ich muß hin, wenn nicht mit, so ohne Deine Er-
laubnis;."
Erstaunt sah der Konsul seine Nichte an. Er hatte
sie noch nie so gesehen. War das noch das ruhige, gut
erzogene Mädchen von früher?
„Es ist gut, Elvira," sagte er nach einer kleinen
Pause bedächtig, „Du sollst morgen srüh nut mir nach
Positano fahren, aber sei ruhig und klug, hörst Du?
Lege Dich jetzt schlafen. Es ist Nacht." Halte Dich
morgen früh um sieben Uhr bereit. Hörst Du? Um
sieben Uhr."
Sie sagte nichts, aber sie küßte ihn dankbar auf die
Wange.

Auf dem Schloß dei Tibaldi in Positano schlichen
die Diener geräuschlos auf den Zehen herum, flüsterten
in Korridoren und Ecken mit halber Stimme und
machten besorgte Gesichter. Der alte Herr war fort,
und der junge lag im heftigsten Wundsieber. Die Aerzte
liefen hin und her, und oben im großen Salon saß
schon seit zwei Stunden der Staatsanwalt Ghilazzi
und wartete ungeduldig, daß der junge Herzog einmal
einen lichten Moment habe, in dein er ihn über die
wichtigsten Vorgänge fragen könnte.
Es war Nacht, aber kein Mensch ging zu Bett oder
dachte auch nur daran, zu schlafen. Gefaßt auf Alles,
mit einer gewissen stumpfen Energie des Wollens saß
Herzogin Estella am Bett ihres Sohnes, dessen un-

ruhiges, überhitztes Blut ihn noch immer in Träumei:
gefangen hielt, welche ihn: wieder und immer wieder
die fürchterliche!: Momente vorführten, die er am Morgen
des vergangene!: Tages hatte erleben müssen.
Herzogin Cesina trat in's Krankenzimmer. „Der
Staatsanwalt Ghilazzi will Dich sprechen, Mama,"
sagte sie leise.
„Mich? Was kann ich ihm sagen?"
„Ich weiß es nicht. Er erklärt, nicht mehr länger-
warten zu können."
„Gut. Bleibe Du so lange hier. Dort steht das
Eis zu den Umschlägen."
„Ja, Maina."
Herzogin Estella warf noch einen langen, besorgten
Blick auf den Kranken, der schwach, nut fieberrothen
Wangen halblaute Worte murmelnd vor ihr auf dem
Bette lag. Dann ging sie fort, stieg die Treppe hin-
unter und fand in den: Salon zu ebener Erde Herri:
Ghilazzi.
„Frau Herzogin," begann dieser sofort eifrig und
eilig, „ich bedaure, nicht länger hier zögern zu dürfe,:.
Ich habe die bestimmte Ueberzeugung, daß zwischen den:
Verbreche!: ii: Non: und den: Verbreche!: in Positano,
dessen Opfer bedauerlicher Weise Ihr Herr Gemahl
und Ihr Sohn geworden ist, ein Zusammenhang be-
steht, der auf eine einheitliche Thüterschast schließe,: läßt."
„Sie dürsten darin Recht haben, Herr Staatsanwalt-,
auch geht das zur Genüge aus den: Zettel hervor, den
uns Attilio überbracht hat. Wäre es nicht der Fall,
so würde uns wohl kann: die Niederschlagung des
Prozesses zur Bedingung der Auslieferung meines Ge-
mahls gemacht worden sein!"
„Sehr richtig. Nun werden Sie begreifen, Frau
Herzog:::, daß ich als Staatsbeamter, bei aller Hilfs-
bereitschaft Ihnen gegenüber, nicht auf diese Bedingung
cingehen kann. Es würde einer Bankrotterklärung der
Justiz gleichkommen, nut Mördern und Räubern auch^
nur zu unterhandeln."
„Was aber soll geschehen?"
„Hören Sie mich an. Es muß unbedingt sofort
etwas geschehen, um die Briganten ausfindig zu machen."
„Und mein Gemahl?" fragte die Herzogin immer
ängstlicher werdend.
„Seien Sie sicher, daß wir mit der denkbar größten
Vorsicht handeln werden, nur verlangen Sie nicht voi:
der Staatsbehörde, daß sie sich das geringe Ansehen,
das sie noch genießt, dadurch verscherzen soll, daß sie
mit Briganten derartige Kompromisse eingeht."
„Herr Staatsanwalt, ich bin eine Frau, eine Mutter
und Gattin. Sie wissen, ii: welcher Sorge ich ii: Bezug
auf Attilio lebe, wollen Sie nur nun auch noch die
Sorge um dei: Gemahl aufbürden? Ist das gerecht?
Ist das menschlich?"
„Fassen: Sie Muth und Zuversicht, Frau Herzogin,
und seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Noth kenne und
sie zu würdigen weiß. — Hören Sie, was geschehen
soll, damit ich meine Pflicht thun kann, und der Herzog
Cesare doch gesichert ist. Graf Tozzo hat sich bereit
erklärt, mit Anbruch des Tages nach Paestum zu gehen,
um sich mit den Briganten in Verbindung zu setzen.
Sie wissen, daß Ihr Gemahl geschrieben hat, wo der
Unterhändler zu finden ist."
„Graf Tozzo will dahin gehen?"
„Ja!"
„Sie rathen dazu, Herr Staatsanwalt?"
„Allerdings. Ich habe den Grafen auf das Ge-
fährliche des Unternehmens wohl aufmerksam gemacht,
und er hat nur erklärt, es gäbe für ihn Angesichts Ihrer
Lage keine Bedenken."
In diesem Augenblick trat Graf Tozzo ein. Auch
er war bleich und übernächtig. Er hatte seit den:
Uebersall noch kein Auge zugethan. Die Herzogin ging
rasch auf ihn zu und reichte ihn: dankbar beide Hände.
„Also doch noch ein Freund in so schwerer Stunde!"
rief sie aus. „Haben Sie heißen Dank für Ihren Opser-
muth, Herr Graf."
Graf Tozzo küßte ihr die Hand und murmelte etwas
von Pflicht und Menschlichkeit.
„Geben Sie ihn: aber kein Geld nut, Frau Her-
zogin," fuhr der Staatsanwalt fort. „Ich habe nut
Graf Tozzo schon Alles bespräche!:, worauf er bei seinen
Unterhandlungen besonderes Geivicht legen soll. Es
handelt sich vorläufig darum, den Aufenthaltsort der
Briganten zu erforschen. Graf Tozzo soll also Alles
versprechen, was gefordert wird. Er kann es, denn er
ist kein Staatsbeamter. Was wir hinterher halten, ist
ja unsere. Sache."
„Und Sie glauben, Herr Staatsanwalt, daß sich
die Briganten auf dergleichen einlassen?" fragte die
Herzogin zweifelnd.
„Frau Herzogin," sagte nun GrafTozzo, „es handelt
sich daran:, die Briganten hinzuhalten und eine Ge-
walttat gegen Ihre:: Gemahl zu verhindern. Ver-
traue,: Sie mir, es wird gelingen."
„Gott segne Sie, Herr Graf, und lasse Ihr Unter-
nehmen gedeihe,:. Auf meine Dankbarkeit dürfen Sie
ii: alle Ewigkeit rechnen."
„Ich rechne auf einen Tag der Ruhe und des Glückes

in Ihrem Hause, gnädigste Frau Herzogin. Er wird
hoffentlich auch für mich ein Tag längst ersehnten
Glückes sein."
Es schien, als wenn Herzogin Estella verstand, auf
was Graf Tvzzo mit diesen Worten anspielte. Sie
reichte ihn: nochmals die Hand, die Graf Tozzo mit
großem Respekt küßte.
Nachdem Herr Ghilazzi sich noch wiederholt hatte
versprechen lassen, ihn: die geringste Wahrnehmung über
den Verbleib der Briganten sofort nach Neapel zu tele-
graphiren, verabschiedete er sich definitiv, um nach der
Stadt zurückzukehren.

Am nächsten Vormittag langte Konsul de Vries mit
seiner Nichte auf dein Schlosse an. Das war ein Licht-
blick sowohl für die schwergeprüfte Herzogin, wie auch
für Cesina. Es war ein Zeichen, daß doch noch einige
Freunde in der Noth aushielten. Herr de Vries, den
man von Allem verständigte, konnte die Anordnungen,
die der Staatsanwalt hinterlassen hatte, nur billigen.
Als ruhiger, weltkundiger Mann mußte er sich sagen,
daß unter den obwaltenden Umständen nichts Anderes,
nichts Besseres unternommen werden konnte.
„Und er?" fragte Elvira leise und schüchtern die
Herzogin Cesina, an die sie sich vom ersten Augenblick
mit rührender Herzlichkeit anschloß.
„Wer?" fragte diese.
„Attilio. Wie geht es ihm?"
„Er hat noch immer Wundfieber. Er kennt Keinen
von uns," antwortete Cesina mit umflorter Stimme,
aus der die ganze Zärtlichkeit sprach, mit der sie an
dem Bruder hing.
„Kann ich ihn sehen? O, lassen Sie mich ihn sehen,
und wenn es nur auf Sekunden wäre!" bat Elvira.
Leicht aufgeregt und aufwallend, wie Cesina war,
küßte sie die Freundin auf die Stirn, dann schlang sie
den Arm um ihre Taille und stieg mit ihr hinauf in
den ersten Stock, wo Attilio's Zimmer lagen. Im
Vorzimmer trafen sie den Doktor Zillani, der den
Kranken behandelte. Leise schob Cesina die Portiere
zurück. Mit lautklopfendem Herzei: trat Elvira ein.
Das Zimmer war künstlich verdunkelt, Attilio lag aus
dein Bett, schwer athmend und noch fieberheiß, obwohl
die Kraft des Fiebers gebrochen schien.
„Attilio!" rief Cesina leise.
Aber Attilio gab kein Zeichen des Bewußtseins.
„Attilio!" flüsterte nun auch Elvira. Ihre Stimme
zitterte, klang aber unendlich weich und zart.
Sofort schlug der Kranke die Augen auf und richtete
dei: Blick dahin, wo Fräulein de Vries stand. Ein
seliges Lächeln glitt über die bleichen Züge und seine
Hand streckte sich matt und schwerfällig ihr entgegen.
„Elvira!" hauchte er schwach.
Fräulein de Vries trat rasch hinzu und ergriff die
heiße Hand. „Muth, Muth, Herr Herzog —" flüsterte
sie. Sie wollte noch mehr sagen, aber die stimme ver-
sagte ihr.
Doktor Zillani trat eilig hinzu. „Wir haben ge-
wonnen, wir haben gewonnen!" rief er leise und freudig
erstaunt über den seltsamen Vorgang. „Das Fieber ist
in: Weichen, das Bewußtsein kommt zurück. Aber nur
keine Aufregungen! Sie wären bei dem Zustand des
Krankei: höchst gefährlich."
Noch einmal drückte Elvira die weiße, fieberheiße
Hand, dieselbe Hand, die so muthig bei der Vertheidi-
gung des Vaters gewesen war. Dann nickte sie ihm
lächelnd zu. „Nun wollen wir gehen. Kommen Sie,
Cesina! Nun weiß ich, daß er wieder gesund wird."

Zwanzigstes Kelpiteü.
Die Sonne senkte sich allmälig in's Meer hinab.
Ii: der wilden Einöde der Felsen von Agropoli herrschte
das Schweigen der abendlichen Natur. Nur der Schrei
der Möven, die in großen, unaufhörlich auf und nieder
flatternde!: Schaaren an: Meeresufer ihre Nahrung
suchten, tönte schrill und kreischend herauf bis zur Höhe
des steilei: Felsens, der auf dei: ersten Blick für einen
Menschenfuß unerreichbar zu fein schien. Er erhob sich
senkrecht aus dem Meere. Nach der Landseite in: Süden
und Südostei: umgab den Felskegel eine weite Schlucht,
die sich nach Osten hin durch die näher herantretenden
Berge sehr verengerte, so daß ein verwegener Mensch
wohl unternehmen konnte, sie zu überspringen, wobei
freilich ein einziger Fehltritt den Tod bringen mußte.
Aber die Leute, die hier hausten, hatten sich gut
eingerichtet. Man schob von dem Felsen aus eine
Leiter über die schmälste Stelle der Schlucht und über-
brückte sie auf diese Weise. Zog inan diese Leiter
wieder fort, so war die Höhle, die als Wohnung diente,
unerreichbar, da man wohl von der Höhle herab auf
die gegenüberliegende Landseite springen konnte, nicht
aber von da hinauf nach dem Felsen.
Am Eingang der sich weit in den Felsen hinein-
senkenden Höhle stand Checco, der Brigant, als Wache.
Wie ivar er eigentlich geworden, was er nun wirklich
ivnr? Er wußte es nicht. Ohne viel zu denken, hatte
er sich von Anderen leiten und benutzen lassen, und
 
Annotationen