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M st.
war dabei immer mehr und mehr auf einen Weg ge-
kommen, den er doch niemals beabsichtigt hatte zu gehen.
Aber was konnte er thun? Nur ein Zucken, nur eine
zweideutige Bewegung, und man hätte ihn niederge-
schossen ohne Zögern.
Drinnen in "der Höhle lag Herzog Cesare, als
Sciosciaro verkleidet. Er schlief gerade. Man hatte
die ganze Nacht gebraucht, um ihn sicher und unbemerkt
hierherzubringen. Nun war der Gefangene vor Er-
schöpfung eingeschlafen. Auch die übrigen Briganten
lagen in der geräumigen Höhle herum und schliefen
theils, theils spielten sie Karten. Nur Ti faß etwas
oberhalb der Höhle auf einem Felsvorsprung, rauchte
gemächlich eine Virginia und schaute aufmerksam nach
Norden, als ob er von dorther Jemanden erwarte.
Es fing an zu dunkeln. Ein gellender, weithin
hallender Pfiff ertönte. Er kam von Agropoli herauf,
der Eisenbahnstation an der Strecke, die von Neapel
nach Kalabrien hinunter führt. Dann tauchte in der
Dämmerung ein Mann auf, der pustend und schnaubend
den Felsen heraufkletterte.
„Lorenzo!" rief ihn Ti an.
Der Angerufene blickte hinauf, wo Ti faß.
„Komm hierher. Was gibt's? Hast Du etwas be-
merkt?"
Lorenzo schritt jetzt vorsichtig und langsam über die
Leiter weg und setzte sich zu Ti auf den Felsen.
„Zieh' die Leiter ein, Checco," befahl Ti.
Checco gehorchte.
„Nun?" fuhr Ti, zu Lorenzo gewendet, fort.
Lorenzo lachte. „Sie haben's eilig. Es war noch
nicht einmal Mittag, als ich von meinem Auslug herab
bemerkte, wie ein Mann an der Station Pästo aus-
stieg und auf den Tempel zufchritt. Ich erkannte ihn
sofort. Es war Graf Tozzo."
„So. Hast Du mit ihm gesprochen?"
„Du hast mir's ja verboten! Er hat mich gar nicht
gesehen. Er hat gewartet und gewartet, bis die Sonne
unterging. Dann fuhr er wieder mit dem Zug in der
Richtung nach Salerno heim."
„Es ist gut so. Die Leute auf Schloß dei Tibaldi
sollen schon weich werden. Sie sollen begreifen, daß
sie es mit Männern zu thun haben, die sich kein X für
ein U machen lassen."
Dann kam Ti herab und trat in die Höhle. Er
schien sehr gut gelaunt.
„Nur munter, Kinder, munter! Ehe die Woche
vergeht, haben wir Geld in Hülle und Fülle und können
gehen, wohin es uns beliebt; können in Nom oder im
Auslände den großen Herrn spielen und haben nicht
mehr nöthig, in der verdammten Höhle von zähem
Ziegenfleisch zu leben. — Was macht der Herzog?"
„Er schläft," antwortete Einer.
„Gut, gut. Er wird sich erholen. Ich dachte heute
Nacht wirklich, er würde uns draufgehen. Nur munter!
Packt eure Siebensachen nur immer zurecht. Vielleicht
schlafen wir schon am Dienstag das letzte Mal hier.
Unsere Sachen stehen vorzüglich."
Checco hörte Alles. Man hatte ihm gesagt, daß er
auch seine vierzigtausend Lire erhalten würde, wenn
Alles gelänge. Checco hatte geantwortet, es fei gut.
Jetzt sah er wieder, wie Ti eine Bewegung machte, die
ihn: schon öfter an ihm ausgefallen war. Der Mann
strich wie unabsichtlich langsam über seine Schärpe, bis
er an einen gewissen Punkt kam, der ein klein wenig
hervorstand, als ob er dort eine Nuß oder ein Ei oder
dergleichen verborgen habe. Kaum fühlte Ti, daß der
Gegenstand noch da sei, so unterbrach sich die Bewegung,
und Ti schien beruhigter.
Checco war nicht dumm; wenn er auch etwas lang-
sam war im Denken, so sagte er sich doch, daß dort
etwas sein müsse, was für den Hauptmann großen
Werth habe. Checco hatte vor lauter Aufregung zwei
Nächte nicht schlafen können. Er glaubte zu wissen,
was Ti in seiner Schärpe verbarg, und wagte doch
auch wieder nicht, seinen eigenen Gedanken zu trauen.
Da man im Herbst war, so wurde es zeitig finster.
Es war noch nicht sieben Uhr, als die Sterne schon
hell und schimmernd am Himmel standen, wie in tiefer
Nacht.
Checco lag am Eingang der Höhle in einen Mantel
gewickelt. Die Nächte wurden in dieser Höhe schon
kühl. Drinnen in der Höhle war Alles finster und still.
Die Leute schliefen. Feuer durfte nicht angezündet
werden. Auch Checco versuchte zu schlafen. „Vierzig-
tausend Lire," murmelte er vor sich hin, wie um sich
selbst zu beruhigen. Aber er konnte trotzdem nicht ein-
schlafen. Immer, wenn er die Augen schloß, stand ihm
die bleiche, hinfällige Gestalt des alten Herzogs Cesare
vor Augen. Und dahinter tauchte das Antlitz Carmela's
auf, ihn vorwurfsvoll und entsetzt anschauend.
Endlich sprang er heftig auf.
„Ich will nicht, ich will nicht!" murmelte er mehr-
mals leise vor sich hin, warf den Mantel ab und besah
prüfenden Auges die Kluft, die ihn vom jenseitigen
Felsen trennte. Dann eine plötzliche heftige Bewegung,
ein tollkühner Sprung —- und er war drüben.
Jetzt war er frei! Das war die Freiheit, die er

Das Büch f ü r A l l e.

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gesucht, als er aus Positano floh, nicht jene, wo man
immer mit gespanntem Hahn hinter ihn: stand. Dort
drüben lag Perbrechen und Willkür, Zerfall mit Gesetz
und Menschen; hier war er rein und schuldlos, ein
Mensch unter Menschen.
Aber er mnßte handeln, um das zu sein. Er durfte
nicht das Verbrechen, das Verderben feinen Gang gehen
lassen!
Die Idee, zu entfliehen, war in ihm nicht neu, nur
die heutige Gelegenheit, wo er die Wache hatte, war
neu, und hatte in ihm den Entschluß zur Ausführung
gebracht. Er wußte, daß der Zug, der aus Kalabrien
nach Neapel fuhr, Agropoli etwa um acht Uhr passirte. Er
hörte ja feit Wochen in feiner Einöde jeden Lokomotiven-
pfiff. Wie eine Katze behend kletterte er die Felsen
hinunter und kam nach etwa einer halben Stunde nach
Agropoli.
Checco sagte sich wohl, daß jener Sprung ihn in
einen Kampf aus Leben und Tod verwickelt hatte.
Spätestens morgen früh, wenn nicht schon zeitiger,
mnßte man feine Flucht bemerken, und er täuschte sich
nicht darüber, was ihm bevorstand, wenn er je wieder
in den Bereich eines der Briganten gerieth. Die wenigen
Minuten, die er in Agropoli auf den Zug warten
mußte, waren ihm die schrecklichsten seines Lebens!
Nur erst fort von hier! Das war fein einziger Ge-
danke und hinter jeder Ecke fürchtete er eine rasche
Dolchklinge.
Die Bahn braucht von Agropoli bis nach Castella-
mare etwa zwei Stunden. Von Castellamare mußte
Checco zu Fuß über das Gebirge nach Positano. Er-
lief mehr, als er ging, und als er schließlich gegen elf
Uhr die Felswege herunterkletterte, von denen aus er
die spärlichen Lichter im Schloß von Positano bemerkte,
schlug ihm das Herz vor Aufregung und Angst so ge-
waltig, daß er es zu hören meinte. Nur ein unwider-
stehliches Gefühl, eine innere Kraft, deren er sich selbst
noch nie bewußt geworden war, trieb ihn unaufhaltsam
vorwärts.
Er ging nicht erst in das Dorf hinunter, sondern
direkt in das Schloß. Wie oft hatte er von seiner-
einstigen Rückkehr nach Positano geträumt, wie hatte er
Carmela und seine Mutter überraschen wollen! Das
war nun Alles anders. An den Minuten dieser Nacht
hing Tod und Leben. Er durfte nicht eine einzige ver-
lieren.
„Ist Graf Tozzo hier?" fragte er den ersten Besten,
den er im Schloßthor fand.
Der Portier sah Checco, der noch seine Sciosciaren-
tracht trug, erstaunt von Kopf bis zu den Füßen an.
„Was wollt Ihr von ihm?" fragte er mißtrauisch,
„es ist schon spät."
„Eben deshalb verlieren Sie keine Zeit und führen
Sie mich zu ihm. Ich komme vom alten Herzog."
Der Portier prallte erschrocken zurück.
„Woher?" fragte er nochmals.
„Bei der Madonna und allen Heiligen, es ist, wie
ich sage. Führen Sie mich sofort zu Jemand, dem ich
meine Mittheilungen machen kann. An den Minuten,
die wir hier verlieren, hängt vielleicht sein Leben und
meines."
„So kommt," sagte der Portier rasch und lief mit
ihm die Treppe hinauf.
Im Schloß von Positano war die Stimmung nach
dem heutigen Mißerfolg des Grafen Tozzo, der fast
den ganzen Tag in den Tempelruinen von Paestum
vergeblich auf den Unterhändler gewartet hatte, eine
sehr gedrückte. Zwar ging es dem Herzog Attilio etwas
besser, aber die Sorge um Herzog Cesare hing wie eine
erdrückende Wolke über den Schloßbewohnern. Sorgen-
voll und überlegend saßen die Herzogin Estella mit
ihrer Tochter, dem Grafen Tozzo und dem Staats-
anwalt Ghilazzi, der in den Abendstunden wieder von
Neapel nach Positano zurückgekehrt war, in dem Fa-
miliensalon im ersten Stock, als der Portier mit seiner
Meldung, es sei ein Mann da, der vom Herzog Cesare
zu kommen behaupte, wie eine Bombe in's Zimmer-
platzte. Alle vier Personen sprangen wie elektrisirt von
ihren Sitzen auf.
„Ein Unterhändler?" fragte Ghilazzi schnell.
„Wo ist er? Führe ihn herein," befahl die Herzogin.
Checco kam. Er war in furchtbarer Aufregung.
Thränen standen ihm in den Augen, und es überfiel
ihn eine zitternde Angst. Wenn man ihm jetzt die
Hände auf den Rücken band und ihn als Genossen der
Räuber in's Gefängnis; warf! Man behandelte ihn
aber zu seinem eigenen Erstaunen sehr artig.
„Sie kommen vom Herzog Cesare?" fragte ihn
Herzogin Estella.
„Ja, Frau Herzogin."
„Wo ist er? Ist er gesund?"
„Herzog Cesare befindet sich augenblicklich in einer
Höhle in den Felsen von Agropoli, und war, als ich
floh, noch gesund."
„Sie sind von dort geflohen? Wollen Sie uns
führen, um dorthin zu gelangen, wo Herzog Cesare sich
befindet? Fordern Sie nur Ihren Preis. Wieviel
wollen Sie haben?"

„Nichts, Frau Herzogin."
Man sah sich gegenseitig erstaunt an. „Wer sind
Sie denn?" fragte Ghilazzi.
„Mein Herr," fuhr Checco nun weinerlich fort, „ich
bin ein armer Fischer aus Positano und heiße Francesco
Santoni —"
„Ah! Derselbe, der wegen des Diebstahls hier in
Verdacht war?"
„Ach, ich bin kein Dieb und kein Räuber. Wäre
ich es, mein Herr, so stünde ich jetzt nicht hier. Ge-
zwungen nur schloß ich mich den Briganten an und
bin nur hier, um wieder gut zu machen, was ich ver-
brochen habe. Folgen Sie mir, meine Herren, und
rufen Sie Soldaten und Carabinieri her. Ich will Sie
hinführen, wo die Briganten den Herzog gefangen halten.
Aber eilen Sie, eilen Sie. Sein Leben wie das meine
hängt an Minuten. Wird meine Flucht aus der Höhle
bemerkt, ehe nur dahin zurückkehren, so wird nicht nur
das Leben des Herzogs in Gefahr sein, sondern die
Briganten werden auch ihren Aufenthalt wechseln, und
wir werden keinen von ihnen erwischen. Man wird
mich aus Rache niederstechen wie einen Hund."
Die Herzogin Estella hob flehend die Hände auf.
„Sie hören, meine Herren, um was es sich handelt.
Wollen Sie sich um mein Haus, um meine Familie
verdient machen, so eilen Sie, handeln Sie wie Männer,
wie Freunde."
Rasch küßte ihr Graf Tozzo die Hand. „Kommen
Sie, Herr Staatsanwalt. Jede Minute Verlust wäre
Verrath. Kommen Sie, Checco! Wo ist der nächste
Gendarmerieposten?"
„Wieviel Briganten sind es?" fragte Ghilazzi.
„Sieben."
„So müssen wir nach Salerno, dort Hilfe zu er-
bitten."
„Fort! Fort!" —
Wenige Minuten später befand sich Herzogin Estella
mit ihrer Tochter allein im Zimmer. Beide wußten
sehr wohl, um was es sich in dieser Nacht handelte,
von wie vielen Zufälligkeiten eine solche Befreiung ab-
hängig war, wie gefährlich ein solches Unternehmen
war. War es überhaupt möglich, den Gefangenen aus
den Händen der Räuber zu befreien, ohne daß ihn: ein
Leid geschah?
Die Frauen sprachen kein Wort. Je weiter der
Zeiger an der Uhr vorrückte, um so banger, ängstlicher,
hilfloser wurden sie. Und dann kam die Stunde, wo
sie sich sagen mußten: jetzt gilt's! Jetzt sind sie an-
einander! Jetzt fällt der Würfel über das Schicksal
des Gatten und Vaters und über das unserige.
Aber sie sprachen kein Wort. Nur das Zucken um
die Lippen verrietst ihre Aufregung, ihre Qual.
-ft A
-ft
Es war schon vier Uhr vorbei. Keuchend kletterte
Graf Tozzo an der Spitze von etwa dreißig Personen
die einsamen Felsenwege von Agropoli hinauf. Besorgt
blickte er von Zeit zu Zeit nach Osten. Noch war Alles
dunkel, aber die Furcht, zu spät zu kommen, versetzte
ihm fast den Athem.
„Die Dämmerung kommt!" flüsterte er, „wir müssen
eilen, eilen, eilen."
Die Carabinieri thaten ihr Möglichstes. Es waren
Piemontesen, gute, zuverlässige Leute. Einige von ihnen
schleppten mühsam einige Bretter, auf denen man die
Schlucht überschreiten wollte. Ueberhaupt hatte man
Alles so gut ausgedacht und besprochen, wie das nur
bei solchen Expeditionen, wo oft unvorhergesehene Zu-
fälligkeiten alle Berechnungen wieder umstoßen, ge-
schehen kann.
Checco sollte zuerst hinüberrutschen, in die Höhle
gehen und versuchen, den alten Herzog unbemerkt daraus
zu entfernen. Da er noch immer sein Sciosciarenkostüm
trug, so hatte diese Idee für sich, daß, wenn auch einer
der Briganten sich ermunterte, er ihn als Genossen er-
kennen und sonnt keinen Lärm schlagen würde. Wäre
dies gelungen, so sollte man mit den Briganten kurzen
Prozeß machen und sie beim geringsten Widerstand zu-
sammenschießen. Aber für alle Fälle hatte man Checco
einen guten Revolver in den Gürtel gesteckt. Der erste
Schuß', der fiel, sollte der Alarmschuß sein für die
Uebrigen, die dann sofort in die Höhle nachdringen
würden.
Als man sich der Höhle bis auf etwa zweihundert
Schritt genähert hatte, machte Checco dem Grafen Tozzo
ein Zeichen, damit er still stehen solle.
„Haltet nur eine Minute," flüsterte Checco. „Ich
will erst sehen, ob wir nicht schon zu spät kommen."
Mit gelenken Sprüngen schwang er sich auf einen
Felsen und strengte seine Augen an, um in der Finster-
niß zu sehen, ob man sich ungestört dem Unterschlupf
der Briganten nähern konnte. Mit angehaltenem Athem
warteten die Uebrigen auf feine Anordnungen. Da
wollte es Checco scheinen, als ob man eben im Begriff
sei, die Höhle zu verlassen. Die Leiter war über die
Schlucht geschoben, und Personen, die er in der Dunkel-
heit nicht unterscheiden konnte, gingen mit Bündeln und
Palleten belastet von der Höhle herunter auf den jen-
 
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