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570

Das V ri ch f ü r All e.

Ljcst 2 t.

ordnungsmäßig zukommt, das soll eine Entschädigung
oder wenn Sie mallen ein angemessenes Honorar seiner
Leistungen sein. Nichts sonst! Ich würde gegen Unter-
stellungen, wie Sie sie meinen Worten unterlegen,
energisch protestiren."
,jGut. Die Aktien werden noch heute in Ihren
Händen sein. Ich bürge Ihnen dafür. Und nm nun
ans den Kardinalpunkt zu kommen: was soll in West-
Hampton-Court geschehen? Denn das werden Sie wohl
einsehen, daß nur da nicht so ruhig zusehen können, wie
man uns allmülig aus denn Sattel hebt."
„Selbstverständlich."
„Was also soll geschehen, oder was kann nach Lage
der Gesetze und nach Lage der Sache geschehen?"
„Das werde ich Ihnen sagen, wenn ich meine Aktien
habe, mein sehr theurer Sir."
Simon schwieg betroffen und trommelte nachdenklich
mit den Fingern aus der Stuhllehne. Dann stand er
auf, Unding ebenfalls.
„Jetzt ist er weich, jetzt kann er nicht mehr anders,"
mochte er sich denken.
Und Simon Jefferson sagte: „Grit. Kommen Sie
heute Abend um zehn Uhr zu mir in mein Arbeits-
zimmer. Die Aktien werden für Sie bereit liegen."
Unding blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, als
ob ihm ein plötzlicher Schreck durch die Glieder gefahren
untre.
„Sie verzeihen," antwortete er nach einer langen
Pause, „aber ich pflege solche Geschäfte in meinem
Bureau abzumachen."
Simon Jefferson zuckte flüchtig die Schultern. „Nun
meinethalben. Erwarten Sie mich also hier. Bis
dahin Adieu."
„Auf Wiedersehen, Mr. Jefferson."
Herzlich, wie zwei alte Freunde, schüttelten sich die
Beiden die Hände, höflich brachte Unding seinen Klien-
ten bis an die Thür, wo sie sich nochmals verbeugten,
und freundlich, väterlich-würdig, bat Jefferson seinen
Advokaten, sich nicht weiter zu derangiren, er kenne sich
ja aus.
Im anderen Zimmer traf Simon Jefferson wieder
mit Doktor Commins zusammen. Er verfehlte nicht,
dem Arzte sehr herablassend und sehr freundlich die
Hand zu bieten, in die Doktor Eommins sehr eifrig und
mit einer riesigen, geräuschvollen Herzlichkeit einschlug.
„Herr Doktor Commins aus Halssea-Castle, wenn ich
mich nicht irre?" fragte Simon Jefferson.
„Allerdings, stnein sehr theurer Mr. Jefferson,
Halfsea-Castle in Südschottland. Prächtige Waldungen,
malerische See, romantische Ufer, herrliche, nervenstär-
kende Luft — —"
„Ich habe wohl schon einige Male Ihren Prospekt
in den Zeitungen gelesen, Herr Doktor, und es freut
mich unendlich und ist mir ein großes Vergnügen
und eine hohe Ehre, Ihre persönliche Bekanntschaft zu
machen. Werden s^ie lange in London bleiben?"
„So lange es meine Geschäfte erfordern, Mr. Jeffer-
son, keine Stunde länger. Ich würde es meinen Pa-
tienten gegenüber nicht glauben verantworten zu können."
„Sehr gut, sehr gut. Aber Sie werden es verant-
worten können, Herr Doktor, zu essen und zu trinken,
so lange Sie hier sind, und wenn Sie die Güte haben
würden, heute Abend bei mir zu essen und zu trinken,
so wäre ich Ihnen außerordentlich verbunden; wir essen
um sieben Uhr. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht zu spät.
Meine Frau wird sich außerordentlich freuen, mein
werther Doktor. Ich darf auf Sie rechnen?"
„O, Mr. Jefferson, die hohe Ehre, die wirklich unver-
diente Auszeichnung --ich werde pünktlich da sein."
„Und es wird Ihr Schade nicht sein, Herr Doktor.
In Wahrheit, es handelt sich um eine Besprechung,
kurzum, ich rechne bestimmt auf Sie. Darf ich?"
„Unbedingt."
Damit trennten sich die Herren unter peinlich-um-
ständlichen Höflichkeitsbezeigungen. Jefferson verließ das
Bureau des Advokaten, und Doktor Commins trat
wieder in das Arbeitszimmer, um seine Angelegenheit
nut Unding weiter zu berathen.

l2.
Es war Abend geworden, und Bob Dryful schlich
trübselig über die Blackfriarsbrücke. Traurig schaute er
in die gelblich-schmutzigen Wogen des Stromes, der ge-
duldig den ganzen Schmutz von Südengland in's Meer
bringt und dagegen die Neichthümer einer Welt auf
seinem Rücken nach London schleppt. Kleine Danrpf-
hoote belebten den Ltrom, und die Uferlaternen spie-
gelten sich flackernd und irrlichterirend auf der dunkeln,
unheimlich brodelnden Fluth.
Was wollte denn Bob eigentlich noch in London?
Gerade an diesem Abend hatte er Nachricht bekommen,
daß seine Klage gegen Unding zurückgewiesen worden
sei. Es war nichts zu machen gegen den neuen Pacht-
kontrakt, und Bob hatte um nichts und wieder nichts
sein Geld verprozessirt. Das war der ärgste Schlag
unter all' dem Mißgeschick, das ihn in letzter Zeit so
Schlag auf Schlag betroffen hatte.

Im Anfang hatte ihn Kitty immer getröstet. Mit
ihrer weichen, einschmeichelnden Mädchenstimme hatte sie
ihm von der glücklichen Zukunft erzählt, die jeden braven
Menschen zuversichtlich erwarte, mit ihrer lebhaften Phan-
tasie hatte sie ihm tausend schillernde, glitzernde, ver-
lockende Möglichkeiten vorgegaukelt und ihn so über die
häßliche Gegenwart hinweggetüuscht. Nun aber war
Alles vorbei; auch befand sich Kitty nicht mehr in Whitel-
Court, sondern wohnte in Westhampton-Court. Bob
wurde immer mehr und mehr davon überzeugt, daß er
zum Unglück geboren sei.
Dieser verwünschte, spitzfindige Advokat mit sammt
seinem Neffen, die an all' seinem Unglück schuldig waren!
Wenn er sie dort unten in der Themse verzweifelt mit
den Wogen ringen sähe — nicht einen Finger würde
Bob zu ihrer Rettung regen.
Was sollte denn aber nun werden? Warum ging
er denn nicht nach Tewkesbury zurück? Bob wußte es
nicht. Es nun', als ob es ihn mit Zügeln und Zangen
in London sestgehalten Hütte.
Unablässig und ununterbrochen hastete der Menschen-
strom an ihm vorbei, der sich gerade hier im Innern von
London zu einem wüsten, lebensgefährlichen Durchein-
ander zusammenballte.
Da sah er plötzlich mitten im Getriebe den neuen
Pächter von Tewkesbury, Mr. Niggs. Etwas hastig
aufgeregt, aber äußerst elegant behandschuht und be-
stiefelt, kam er rasch auf Bob zu. Dieser wunderte sich
sehr, den neuen Pächter jetzt in London zu sehen. Die
Nübenernte mußte jetzt im vollen Gange sein, und Niggs
ivar in London?
„Nun, Mr. Dryful," sagte der neue Pächter in einer
eigenthümlich hastigen, drängenden: Art, als ob er es
Gott weiß ivie eilig habe, „wie zum Geier sehen Sie
aus? Machen Sie nicht ein Gesicht, als ob Ihnen die
Hühner das Brod genommen hätten?"
Bob grüßte etwas verwirrt zurück: „Guten Abend,
Mr. Niggs. Was thun Sie denn jetzt hier in London?"
„Was ich in London thue? Ei, was alle vernünftigen
Leute in London thun. Amüsiren null ich mich. Denken
Sie, ich wollte mich in Tewkesbury einpuppen ivie eine
Raupe, oder Winterschlaf halten wie ein Murmelthier?
Glauben Sie, Mr. Dryful, ich weiß nicht, was der alte
Unding, mein Onkel, mit mir im Schilde führte, als
er mich nach Tewkesbury verbannte. Er soll sich wun-
dern. Wenn er glaubt, aus mir einen Bauern zu
machen, so soll er sich schon noch wundern. Tewkesbury!
Ha, ha, ha! Weiter fehlte nichts. Ich kenne schon alle
Hunde dort. Und Sie, was haben Sie vor? He?"
Bob hätte gerne gefragt, wie eS seiner Mutter in
Tewkesbury ging, aber er unterließ es. Niggs machte
ihm einen so unruhigen, fahrigen Eindruck, daß er nicht
glaubte, bei ihm Interesse für eine alte Frau voraus-
setzen zu dürfen.
„Ich ivar auf dem Wege zu Ihrem Onkel, Mr.
Niggs. Aber es ist nun wohl schon zu spät."
„Zu früh! Zu früh! Er hat mich auf halb zehn
Uhr zu sich in sein Bureau bestellt und jetzt ist es ja
kaum neun Uhr. Wir gehen nachher zusammen hin.
Inzwischen können wir uns amüsiren. Was wollten Sie
bei meinem Onkel?"
„Hm! Wegen der Pacht —"
„Was? Sie wollen noch immer wieder nach Tewkes-
bury?"
„Ja. Ich wollte noch einmal an das gute Herz
Ihres Onkels appelliren —"
„Ha, ha! Sehr gut. Gutes Herz bei Onkel Unding
ist ausgezeichnet."
„Ich meinte, aus Barmherzigkeit mit meiner alten
Mutter, und da es Ihnen doch nicht in Tewkesbury
gefällt, Mr. Niggs —"
Dem guten Bob wurden die Augen feucht, schon
wenn er an seine Mutter dachte, die noch immer darauf
wartete, daß er gute Nachrichten nach Hause bringen
sollte. Er wußte es wohl, es wäre der Tod für die
alte Frau gewesen, wenn sie von dem Hof mußte, und
nur der Gedanke an sie konnte ihn veranlassen, immer
und immer wieder neue Schritte zu thun, um den Hof
wieder zu erhalten. Der Gedanke an sie veranlaßte ihn
auch jetzt, sich von Niggs, der ihm ganz und gar nicht
sympathisch war, fortziehen zu lassen und zuzuhören,
wie er sagte:
„Das ist ja alles Unsinn, mein Freund. Wenn es
Ihnen mit aller Gewalt darum zu thun ist, sich in
Tewkesbury hinter Mistkarren und Rübenhaufen zu
verschanzen, so wird sich Rath schaffen lassen. Soviel
ist gewiß, ich thue es nicht. Und jetzt zum Teufel mit
dem Plunder. Kommen Sie, Drysul. Kennt einer-
fein London, so bin ich es. Kommen Sie. Mit mir
langweilen Sie sich nicht."
„Mr. Niggs, mir ist, wie Sie begreifen werden,
gar nicht so zu Muthe, um —"
„Lassen Sie mich in Ruhe mit Ihren bockbeinigen
Redensarten, sage ich. Sie werden mir doch nicht sagen
wollen, was das Leben ist? Das weiß man hier besser
wie in Tewkesbury. Kommen Sie nur, wir kaufen uns
für einige Schillinge andere Gedanken."
Es war nicht leicht, einen größeren Gegensatz zwischen

zwei jungen Leuten zu finden, als er zwischen Niggs
und Drysul bestand. Der Erstere mit der Erziehung
der modernen Großstadt, mit dem streng aus's Materielle
gerichteten Sinn, mit der klugen, sandigen Schlauheit
des in jeder Hinsicht Routinirten, der „alle Schliche
kennt", und der Andere mit seiner tiefen Gemüths- und
Herzensbildung, mit den Ansuchen ländlichen Anschau-
ungen und Sitten.
Niggs zog Bob fort, über die Brücke hinüber, die
Upper-Thames-Street entlang nach dem Tower zu.
„Das Leben, Mr. Dryful," philosophirte Mr. Niggs
unterwegs, „wissen Sie, was das ist? Eine Blase, ein
Hauch, ein Nichts, dessen man nicht über die nächste
Viertelstunde sicher ist. Wie Mancher hat sich Zeit
seines Lebens geplagt wie ein Esel und ist, als er genug
hatte, vor der Zeit gestorben. Das ist also Alles Plunder,
mein lieber Dryful. Die Zukunft — ich sage Ihnen,
die Zukunft ist nicht soviel werth, ivie eine verfaulte
Melone. Die Zukunft verspricht, die Gegenwart be-
zahlt. Nur lustig — das ist die Hauptsache. Wer weiß,
was morgen kommt."
Sie bogen dann in eine kleine, schmale, sehr un-
saubere Seitenstraße ein, die nach dem Fluß hinunter-
führte. Vor einem kleinen, höchst unscheinbaren Hause,
über dessen schmalem Eingänge eine rothe Kugellampe
mit einein weißen Halbmond im Glas hing, machten
sie Halt. Dann traten sie ein und gingen den ziemlich
tiefen Hausgang entlang, wahrscheinlich nach einem
Hinterhause zu.
Plötzlich fühlte Bob, wie seine Stiefel auf dicken,
weichen Teppichen gingen, die Wände des Ganges waren
mit schweren Stoffen behangen, und durch eine Thür,
deren beide Hälften geräuschlos auf- und zuklappten,
traten sie in ein nach orientalischem Geschmack weichlich
eingerichtetes Gemach, in dem ein süßlicher, eigenthüm-
lich riechender, leichter Dampf die Luft erfüllte.
Bob kannte solche Lokale wohl. Es war eine so-
genannte Opiumhöhle, und Niggs schien ein ziemlich
bekannter Besucher zu sein, denn ein junges, ebenfalls
orientalisch gekleidetes Mädchen schlug bei seinem An-
blick ohne Weiteres die Portieren eines kleinen Neben-
zimmers auseinander, in dem sich mehrere Divans be-
fanden. Zum Theil waren diese schon besetzt. Opium-
raucher in allen Stadien, von den glitzernden Augen
und dem überirdisch ünd träumerisch glüstlich lächelnden
Mund bis zu dem öden und blöden Stumpfsinn voll-
ständiger Nervenzerrüttung lagen herum, die eigenartigen
Pfeifen, auf denen das Opium kohlte, auf kleinen Tischchen
neben sich.
Bob wurde von Ekel und Abscheu ergriffen — hastig
nahm er von Mr. Niggs Abschied.
„Wie Sie wollen," sagte dieser gleichgiltig. „Sagen
Sie nur meinem Onkel, daß ich ihn in einer Stunde
abhole. Hören Sie, Drysul? In einer Stunde. Und
machen Sie nicht etwa die Plaudertasche. Ich verbitte
mir das, Sir!"
Bob trat aufathmend aus der dicken, süßlichen Lust
des Hauses wieder auf die Gasse und lenkte seine
Schritte rasch nach Lincolnsinn. Da Unding ausnahms-
weise noch in seinem Bureau war, so wollte er die
Gelegenheit benutzen und ihm seine Sache vortragen.
Freilich, viel Hoffnung hatte er nicht. Er wollte sich
nur nichts vorzumerfen haben und glaubte es seiner
Mutter schuldig zu sein, nichts unversucht zu lassen,
was nur einen Schimmer von Hoffnung Hot.
Die Schreiber waren natürlich schon nach Hause ge-
gangen. Nur der kleine Jones war noch in dem Bureau
und auch dieser war aus seinem Pultdeckel eingeschlafen.
Aus dem Privatbureau fiel ein schmaler Lichtstreifen,
den die grünen Vorhänge der Thür durchließen. Der
Advokat mußte also wohl noch da sein. Es war ganz
still in dem Bureau, als Bob dort eintrat.
Eine einzige Gasflamme brannte in dem Lokal, in
dem der Schreiber schlief, und auch diese hatte einen
grünen Schirm, der das Licht im Zimmer dämpfte und
es auf den Schläfer am Pult konzentrirte.
Da das Bureau im Erdgeschoß lag, so wurden die
Fenster des Abends mit Läden verschlossen, und deshalb
klang der Straßenlärm auch jetzt nur verworren und
dumpf herein.
Als Bob an den Schreiber herantrat, um ihn zu
wecken und sich melden zu lassen, hörte er, ivie die
Glasflamme leise brodelte und zischte, wie es gewöhnlich
ist, wenn eine Flamme zu viel Druck hat.
„Würden Sie die Güte haben," sagte Bob höflich
zu dem Schreiber, „und mir sagen, ob ich Air. Unding
sprechen kann?"
Jones hob das verschlafene Gesicht auf, und als er-
den ihm wohlbekannten Besucher sah, zuckte er verächt-
lich die Schultern.
„Sie sind schon wieder da? Lächerlich! Nun, meinet-
wegen, mich geht's nichts an. Gehen Sie hinein. Er
ist drin."
Schlaftrunken legte Jones daS schwere Haupt wieder-
auf den Pultdeckel, und Bob trat in Unding's Ummer.
Dieser saß am Kamin und las die „Times". Als er-
den ehemaligen Pächter gewahrte, fuhr er ruhig in seiner
Lektüre fort und sagte nur zerstreut: „Ach so, Lie sind'S?"
 
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