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Das Buch für Alle.

571

Es schien, als ob er jemand anders erivartcl Halle.
„Mr. Finding —"
„Was zum Henker können Sie denn noch wollen?
Nach all' dein, was Ihnen gesagt worden ist, könnten
Sie doch nun über Ihre Angelegenheit im Klaren sein."
„Herr Rechtsanwalt, ich habe eben mit Ihrem Neffen
gesprochen —"
„Sie kennen ihn? denn, dann müßten Sie sich doch
denken können, wie froh ich bin, diesen Taugenichts
einmal ordentlich untergebracht zu haben. Ich weiß
wohl, daß der Mensch überall Unsinn macht, rind des-
halb habe ich ihn nach Tewkesbury gesteckt. Dort kann
er wenigstens keinen Schaden anrichten."
„Er hat mir gesagt, erweckte wieder fort von Tewkes-
bury."
„Das weiß ich scharr langst. Ich aber bin froh, daß
er dort ist."
„Wenn er aber doch durchaus die Pacht wieder auf-
geben will, um nach London zurückzukehren —"
„Er wird nicht nach London zurückkehren, sondern
wird irr Tewkesbury bleiberr, Mr. Dryful," entgegnete
der Advokat mit erhobener Stimme. „Er wird morgen
wieder abreisen und wird die Pacht behalten! Anders
wird es nicht. Verstanden, Sir? So lange ich lebe,
nicht. Ich will dem Jungen scharr Naisan beibringen,
Verstehen Sie? So lange ich lebe, bleibt er irr Tewkes-
bury."
„Mr. Finding, aus Barmherzigkeit, aus Mitleid mit
rireiner alten Mutter —"
„Lassen Sie mich irr Ruhe mit solchem faulen Zauber.
Das sind kostspielige Sachen im Leben, und ich gebe
mich damit nicht ab, und nun Adieu, Mr. Dryful.
Machen Sie die Thür von draußen zu und stören Sie
mich nicht weiter. Adieu!"
Finding kehrte damit dein Pächter den Rücken zu,
lehnte sich bequem irr seinem Sessel zurück und las die
Verhandlungen des Unterhauses rrrit einem Interesse
und mit einer Aufmerksamkeit, als wenn er allein ge-
wesen wäre.
Bob schluchzte aus seinem gequälten Herzen auf.
Er ballte die Fäuste, hielt sie an die Schläfe, preßte
die Zähne aufeinander und schluckte die Thränen hin-
unter.

Der Schreiber Janes schlief nach immer, als Bob
durch das Bureau nach der Thür schlich. Er ließ ihn
schlafen und ging fort. Irr dem Hauptgang, der ziemlich
dunkel lag, begegnete er einem Manne, van dem er
glaubte, daß er ihn schon irgendwo gesehen haben müsse.
Aber er war zu elend, zu aufgeregt und zu sehr von
seinen eigenen traurigen Angelegenheiten in Anspruch
genommen, als daß er sich um Anderes hätte kümmern
können oder mögen. Er eilte auf die Straße und war
bald in deren geschäftigem Treiben, das dort noch immer
herrschte, verschwunden.

Mr. Niggs kannte sein London wohl und auch die
Gefahren der Riesenstadt. Deshalb rauchte er nie mehr
wie zwei Pfeifen Opium, was ihm, wie er glaubte,
nichts schaden könnte. Das reichte gerade hin, um ihm
„andere Gedanken" zu machen, um ihn in jenes phan-
tastische Träumen zu versetzen, das das Entzücken und
die Sehnsucht, den unwiderstehlichen Zauber des Opium-
rauchers bildet.
Aber, wie er zu seinem Schrecken bemerkte, hatte er
sich bei dieser Angelegenheit dach ein wenig verspätet,
denn als er aus dem Hause heraustrat, schlug es bereits
auf den Thürmen Landons zehn Uhr. So rasch, als
es ihm sein etwas schwankender Zustand erlaubte, strebte
er nun dem Bureau seines Onkels in Lincolnsinn zu.
Es war kurz nach ein Viertel auf elf Uhr, als er dort
ankam. Der Luchreiber schlief noch immer.
„Jones, Donnerwetter, Sie schlafen ja wie ein
Murmelthier," lallte Niggs lärmend und wankte durch
das Zimmer hindurch nach dein seines Onkels.
Auf der Schwelle aber blieb er plötzlich entsetzt
stehen.
Er wurde vor Schreck leichenblaß und tastete un-
willkürlich nach dem Thürpfoften, um sich zu halten.
Alif dein Teppich, der Länge nach ausgestreckt, das Ge-
sicht nach unten, Kleider, Wüsche und Hände über und
über mit Blut besudelt, lag Finding und rührte und
regte sich nicht.
„Onkel! Onkel!" schrie Niggs wie angewurzelt, aber
es kam keine Antwort. Jones fuhr infolge der gellen-
den Rufe verstört aus dein Schlafe auf und sprang
hinzu.
„Was ist das, Mr. Niggs? Was ist geschehen?"
Damit drehte sich der gelenkige kleine Schreiber an
-Niggs vorbei in das Zimmer seines Prinzipals, um zu
sehen, was es da gäbe. Langsam, furchtsam näherte
er sich dem regungslosen Körper, betastete ihn, rüttelte
ihn und wendete ihn zuletzt mit peinlicher Anstrengung
um. Der Körper war noch warm, die That mußte also
eben erst, vielleicht vor Minuten oder Sekunden, ge-
geschehen sein. Der Advokat aber war todt.
Die neueste Nummer der „Times", in der er ver-
muthlich noch gelesen hatte, hielt er in der Hand. Sie

ivar blutig und zerknüllt. Aus einer Wunde im Rücken ,
des Opfers sickerte noch immer langsam dickes, dunkel-
rothes Blut. Ein Dolchstoß, der mit furchtbarer Ge-
walt von hinten geführt worden sein mußte, hatte durch
den Rücken hindurch das Herz durchbohrt. Der Tod
mußte auf der Stelle eingetreten sein.
Mw "Niggs wurde Angesichts dieses blutigen Schall-
spiels rasch nüchtern. Er machte sofort Lärm. Es han-
delte sich für ihn darum, daß Alles genau festgestellt
wurde, denn er war Miterbe des kinderlosen Advokaten.
Er schickte nach dein Viertelskommifsarius, und der Todte
ivar noch nicht kalt, als schon die ausgebreitetsten
Recherchen nach seinem Mörder im Gange waren.

13.
Am nächsten Morgen ivar Mr. Simon Jefferson
verhältnißmäßig früh auf den Beinen. Er wollte nach
der Charing-Croß-Station, nur von dort nach West-
Hampton-Court zu fahren.
„Du bleibst ganz gewiß nicht länger, Simon, als
Du mußt," sagte Frau Jane beim Abschied.
„Ganz gewiß nicht, meine Liebe. Was hast Du?
Du zitterst."
„Ach, Simon, wenn Du wüßtest, wie mir zu Muthe
ist," stöhnte die Frau.
„Hm! Meine Liebe, Du brauchst es mir nur zu
sagen, dann weiß ich es."
„Mir schnürt's das Herz zu. Ich wage vor lauter
Angst nicht zu athmen. Jedes Geräusch, jeder Wind-
stoß erschreckt mich zu Tode."
Mr. Jefferson sah nach der Uhr.
„Es ist fünf Minuten vor neun Uhr. Ich muß
gehen. Meine Liebe, ich habe es Dir ja schon immer
gesagt, Du mußt Luftwechsel haben. Du hast einen
Herzfehler und mußt reine, warme Luft athmen, nicht
diese dicke Luft von London. Daher kommt Deine
Angst. Geh' Du nach Nizza diesen Winter. Das wird
das Beste sein. Geh' nach Nizza. Und jetzt Adieu.
Ich muß fort. Adieu."
Er knöpfte mit der ihm eigenen und unnachahmlichen
Würde den Nock über der Brust zu, stieg die Treppe
hinunter und nahm unten auf der Straße ein Cab, mit
dem er nach der Station fuhr. Als er den Bahnhof
betrat, stürzte auf einmal sein „theurer Freund", Doktor
Commins, auf ihn zu, der ihn schon feit einigen Mi-
nuten dort erwartet hatte, und hielt ihm eine der Lon-
doner Morgenzeitlingen vor die Nase.
„Wissen Sie schon, Mr. Jefferson? Es ist haar-
sträubend!" rief er aufgeregt. „Haben Sie es schon
gelesen?"
Simon Jefferson blieb stehen. Es ivar ihm plötzlich
sehr heiß und er knöpfte den Nock wieder auf.
„Nein," antwortete er, „ich habe heute noch keine
Morgenzeitung gelesen, mein wertherDoktor. Ich komme
soeben erst von Halise. Was gibt's?"
„Man hat den Rechtsanwalt Finding in seinem
Bureau ermordet aufgefunden."
„Was Sie sagen!" rief Jefferson mit allen Zeichen
der Ueberraschung.
„So ist's. Lesen Sie. Gestern Abend kurz vor halb
elf Uhr hat ihn sein Neffe gefunden. Es ist fürchterlich!
Ist es nicht unglaublich, was es in diesem London für
ruchlose Menschen gibt?"
Jefferson schien etwas kurzsichtig zu sein, denn er-
hielt das Blatt ziemlich dicht vor das Gesicht, während
er las. Dann gab er es dem Doktor zurück.
„Und wer kann das gethan haben, Doktor?"
„Ja wer? Wer das wüßte!"
„Sein Neffe ist ein leichtfertiger Bursche. Ich kenne
ihn wohl. Und er ist einer der Erben Finding's, wenn
auch nicht der einzige. Aber —"
„Sie meinen?"
„Ich meine gar nichts. Die angestellten polizeilichen
Nachforschungen werden dem Geheimnis; wohl bald auf
den Grund kommen. Er hat ihn — gefunden, wie er-
jagt. Nun ja, wissen kann ja das Niemand, denn der
im Bureau anwesende Schreiber Jones hat, wie ja hier-
steht, fest geschlafen. Also hat NiggS Recht, wenn er
sagt, er habe ihn gefunden. Aber —- aber — man
wird ihm das wohl nicht so ohne Weiteres glauben."
„Nein, natürlich nicht. Indessen, ein Raubmord
scheint nicht vorzuliegen, denn hier steht ja, daß alle
Werthsachen unberührt gefunden worden seien."
„Ein Raubmord, bah," machte Jefferson achselzuckend,
„wozu braucht man denn zu rauben, wenn man erbt? —
Doch nun kommen Sie. Es ist Zeit, in den Zug zu
steigen."
Die Herren stiegen in den Wagen. Gleich darauf
brauste der Zug aus der Halle hinaus. Aber Doktor
Commins konnte sich über die Finding'sche Angelegen-
heit noch immer nicht beruhigen.
„Wenn man sich," begann er nach einer Weile
wieder, „die Sache recht überlegt, so ist gerade hier der
kriminalistischen Forschung ein äußerst weiter Spielraum
gegeben. Bedenken Sie, mein theurer Mr. Jefferson,
welche ungeheure Kundschaft, welche vielverzweigten
Verbindungen solch' ein Advokat, und besonders Mr.

Finding gehabt hat. Und ich kenne ihn wohl und weiß
aus eigener Erfahrung, daß er, wenn er einmal Jemand
an der Angel hatte, ihn nicht blos ausplünderte. Ich
sage Ihnen, mein werther Sir —"
„Ich kann das eigentlich nicht sagen," unterbrach
ihn Simon Jefferson wohlmeinend. „So lange er meine
Angelegenheiten besorgt hat, bin ich stets gut mit ihm
au.einander gekommen. Nur in allerletzter Zeit hat
sich meine Nichte über Unregelmäßigkeiten beklagt, die
sie — ich schreibe das eben ihren aufgeregten Nerven
zu — mir in die Schuhe schiebt —"
„O, natürlich, natürlich. Das lassen Sie mich nur
machen, mein theurer Sir, verlassen Sie sich auf mich."
„Ich bitte Sie, mein lieber Doktor, ich habe selbst
Familie und bin, wie Sie ja wohl wissen, ein beschäf-
tigter Mann. Kann ich mich um Alles und Jedes
kümmern? Ist es möglich, daß ich jeden Kontrakt,
jedes Aktenstück, jeden Wisch selbst durchlese?"
„Unmöglich, total unmöglich!"
„Ich mußte mich also auf Finding in vieler Hinsicht
verlassen. Wenn er mein Vertrauen getäuscht hat, ist
das meine Schuld?"
„Gott bewahre, Mr. Jefferson. Gott bewahre."
„Meine Nichte denkt ja auch gar nicht daran, mit
mir wegen Schillingen und Pfunden zu rechnen oder-
gar zu streiten. Sie ist ja ein gutes Mädchen, ober-
ste muß eben streng und stramm gehalten werden —"
„Kein Wort, kein Wort mehr, Mr. Jefferson. Ich
sage blos: verlassen Sie sich auf mich. Kein Wort
mehr."
„Nun ja. Wir wollen nur wünschen, daß Alles
gut ablüuft. Ich sage Ihnen, der Doktor Strehlen hat
sie aufgehetzt. Ich habe Ihnen ja davon schon gestern
Abend erzählt, auch weshalb er das gethan hat. Ich
sage Ihnen, mein verehrter Herr Doktor, an diesen:
Doktor Strehlen haben Sie einen Kollegen —"
„Ah bah," machte Doktor Commins großartig und
mit verächtlicher Miene.
„Nun gut. Ich sage Ihnen blos, er ist ein scher
Kerl, ein Mensch, der die Welt wohl kennt und auf ihr
zu laufen versteht."
„Lassen Sie mich nur machen, mein ehrenwerther
Sir. Lassen Sie mich das nur machen. Ein Arzt?
Bah, ein Quacksalber, der die Menschen behandelt wie
ein Schuster seine Stiefeln. Alle über einen Leisten,
Alles nach einem Rezept. Nicht eine Ahnung von der
unendlichen, unerschöpflichen Verschiedenheit der mensch-
lichen Konstruktion. Es gibt nicht zwei gleiche Menschen
auf der Erde, und solche Quacksalber kuriren Alle, als
ob sie Alle gleich wären."
„Die medizinische Wissenschaft —" warf Jefferson,
der sich auch ein gelehrtes Ansehen geben wollte, ein.
Aber Doktor Commins ließ ihn gar nicht ausredcn.
„Die medizinische Wissenschaft?" unterbrach er ihn.
„Gut, Sir, wenn Sie davon reden wollen, so will ich
Ihnen reinen Wein einschenken und sagen, was das ist,
die Medizin. Sie ist das Verfahren, mittelst dessen man
Droguen, von denen man nie vorher weiß, wie sie
wirken werden, in einen noch unbekannteren Körper
bringt. Lassen Sie mich also in Ruhe mit der Me-
dizin."
Jefferson hatte keine Zeit, über diese verblüffende
Enthüllung weiter nachzudenken, denn der Zug hielt,
und sie mußten aussteigen, um sich nach Westhnmpton-
Court zu begeben.
Als sie dort ankamen, trafen sie auf der Veranda
den Doktor Strehlen, der sich dort mit Mary Wimpleton
unterhielt.
„Ah, mein theurer Herr Doktor," rief ihm Simon
Jefferson mit seinen: ganzen Wohlwollen zu, „wie freut
es mich, Sie in Westhampton-Court zu treffen. Außer-
ordentlich angenehm, werthester Herr Doktor. Und wie
geht es meiner Nichte? Ich fürchte, Herr Doktor, sie
befindet sich nicht zum besten."
Doktor Strehlen runzelte die Stirn etwas, verbeugte
sich indeß vor den beiden Ankömmlingen und sagte:
„In der That, die letzten Tage haben Miß Jefferson
mehr angegriffen, als ich dachte und als irgend Jemand
vorhersehen konnte. Ich fürchte sehr, Mr. Jefferson,
Ihre Nichte wird Sie nicht empfangen können. Ich
wenigstens würde entschieden von jeder Aufregung ab-
rathen."
„Ich muß sie aber sprechen. Mrs. Wimpleton,
Sie werden die Güte haben, meiner Nichte meine An-
kunft mitzutheilen. Ich würde sofort bei ihr sein.
Wollen Sie die Güte haben, es ihr mitzutheilen?"
Mary ging, um den Befehl auszurichten.
„Und hier stelle ich Ihnen meinen lieben Freund,
Herrn Nathaniel Commins von Halfsea-Castle vor, ein
sehr bedeutender Nervenarzt, wie Sie wissen werden,
Herr Doktor Strehlen."
Die beiden Herren verbeugten sich gegenseitig und
wechselten einige höfliche Redensarten. Doktor Strehlen
mit dem Anderen, weil er seinen „Kollegen" nicht kannte,
und Letzterer nut ihm, weil er ihn kannte.
„Ich habe Herrn Doktor Commins, der sich zufällig
und nur ganz kurze Zeit in London aufhält, bewogen,"
fuhr Simon Jefferson würdig fort, „sich einmal unsere
 
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