Naumburg. Bildwerke (Die Kreuzigung).
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auch die Haltung ist noch ganz romanisch. Die wagerechten Arme weisen auf
die Zeit, wo der Gekreuzigte mit beiden Fußen auf dem Trittbrett stand. Der
aufgetriebene Bauch, der Herrgottsrock, ja die Strähnen, die sich auf der linken
Achsel ausbreiten, sind an den großen Triumphkreuzen Sachsens typisch. Es
scheint, als habe der Künstler durch den Raum beengt oder am Gegenstand
verzweifelnd kein rechtes Feuer, keine Erfindungskraft, keine Liebe zur Sache
gehabt. Die Anatomie kann man einfach schlecht nennen. Die Brust ist schmal
und ohne Gliederung, der Leib geschwollen und ein wenig nach rechts aus-
gebogen, die Beine viel zu kurz und wie die muskulösen Arme eigentlich nur
in groben Umrissen bezeichnet. Die Hände mit den symmetrisch ausgebreiteten
Fingern und die Füße sind roh. Man würde das dem Schöpfer der Hände Utas
und des Diakonen nicht Zutrauen. Der Leibrock, der an der linken Hüfte in
einen Knoten geschürzt ist, zeigt allerdings die volle Meisterschaft malerischer
und doch organischer Faltengebung und steht hoch über dem kleinlichen Gefältel
etwa des Wechselburger oder Braunschweiger Kruzifixns. Das Haupt, von einer
mächtigen, naturgetreuen Dornenkrone bedeckt, verrät eigentlich mit keinem
Zug, daß etwas Göttliches zu Grunde gehp Es ist ein Kopf mit niederer Stirn,
müden, halbgeschlossenen Augen, vollen, breiten Wangen und dicker Nase. Dem
geöffneten Munde scheint der letzte Schrei zu entfliehen. Die Unterlippe mit dem
Kinn hängt schon schlaff herab, die Oberlippe ist schmerzhaft aufgezogen: Eine
große, doch nur körperliche Kraft nahe vor dem Erlöschen. Doch wie beim
Homer die Schönheit Helenas sich in den Augen der Greise spiegelt, so wirkt
hier das Leiden Christi erst ganz und wirklich ergreifend in seiner Mutter und
seinem Jünger.
Maria ist sicher das Gefühlvollste, wenn nicht das Schönste, was der
Naumburger Bildhauer geschaffen hat. Eine hohe, zarte, schlanke Frau,
eingehüllt in eine wuchtige Stoffmasse, das zarte Haupt gebeugt und verzerrt
vom Schmerz, die klopfende Brust, die zitternden Finger, wen sollte das nicht
im Innersten erschüttern! Das Motiv ist so einfach wie möglich. Das schmerzens-
reiche Gesicht blickt den Beschauer so eindringlich an mit der Frage: „Kennst
du ihn, der für dich stirbt, dessen Tod mir das Herz zerreißt ?u Dazu legt sich
die rechte Hand, mit unvergleichlicher Meisterschaft rund, weich und förmlich
bebend gearbeitet, auf die volle Brust, deren Schläge wir zu hören meinen,
während die Linke den Mantel, der zugleich als Schieber über den Kopf gezogen
ist, nach der Seite öffnet, um auf den Sohn zu zeigen (alle Finger dieser Hand
sind schlecht erneuert.) Das Kleid ist am Halse ausgeschnitten und stößt in
unruhigen, fast barocken Zügen und Brüchen auf dem Sockel und den Füßen
auf. Der Mantel ist von beiden Seiten aufgerafft, .die rechte Hälfte zwischen
Unterarm und Leib geklemmt und fällt von da in einem schönen, rückwärts
gerollten Zipfel auf das Knie, die linke Hälfte in einem dicken Bausch über den
Leib gezogen und über den rechten Arm geworfen. Ein dritter Zipfel fällt unter
dem ersten zwischen den Knien herab. Für ihn gibt es keine organische
Erklärung. Denn wie man diesen Pleonasmus auch zu lösen sucht, so kann ein
Mantel dieser Art doch immer nur zwei Zipfel ergeben, der dritte ist dekorative
Zugabe. Der Kopf ist im Verhältnis klein, zur Seite geneigt und von wirren
Haaren umrahmt, das Gesicht ein feines Oval von hoher, verklärter Schönheit,
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auch die Haltung ist noch ganz romanisch. Die wagerechten Arme weisen auf
die Zeit, wo der Gekreuzigte mit beiden Fußen auf dem Trittbrett stand. Der
aufgetriebene Bauch, der Herrgottsrock, ja die Strähnen, die sich auf der linken
Achsel ausbreiten, sind an den großen Triumphkreuzen Sachsens typisch. Es
scheint, als habe der Künstler durch den Raum beengt oder am Gegenstand
verzweifelnd kein rechtes Feuer, keine Erfindungskraft, keine Liebe zur Sache
gehabt. Die Anatomie kann man einfach schlecht nennen. Die Brust ist schmal
und ohne Gliederung, der Leib geschwollen und ein wenig nach rechts aus-
gebogen, die Beine viel zu kurz und wie die muskulösen Arme eigentlich nur
in groben Umrissen bezeichnet. Die Hände mit den symmetrisch ausgebreiteten
Fingern und die Füße sind roh. Man würde das dem Schöpfer der Hände Utas
und des Diakonen nicht Zutrauen. Der Leibrock, der an der linken Hüfte in
einen Knoten geschürzt ist, zeigt allerdings die volle Meisterschaft malerischer
und doch organischer Faltengebung und steht hoch über dem kleinlichen Gefältel
etwa des Wechselburger oder Braunschweiger Kruzifixns. Das Haupt, von einer
mächtigen, naturgetreuen Dornenkrone bedeckt, verrät eigentlich mit keinem
Zug, daß etwas Göttliches zu Grunde gehp Es ist ein Kopf mit niederer Stirn,
müden, halbgeschlossenen Augen, vollen, breiten Wangen und dicker Nase. Dem
geöffneten Munde scheint der letzte Schrei zu entfliehen. Die Unterlippe mit dem
Kinn hängt schon schlaff herab, die Oberlippe ist schmerzhaft aufgezogen: Eine
große, doch nur körperliche Kraft nahe vor dem Erlöschen. Doch wie beim
Homer die Schönheit Helenas sich in den Augen der Greise spiegelt, so wirkt
hier das Leiden Christi erst ganz und wirklich ergreifend in seiner Mutter und
seinem Jünger.
Maria ist sicher das Gefühlvollste, wenn nicht das Schönste, was der
Naumburger Bildhauer geschaffen hat. Eine hohe, zarte, schlanke Frau,
eingehüllt in eine wuchtige Stoffmasse, das zarte Haupt gebeugt und verzerrt
vom Schmerz, die klopfende Brust, die zitternden Finger, wen sollte das nicht
im Innersten erschüttern! Das Motiv ist so einfach wie möglich. Das schmerzens-
reiche Gesicht blickt den Beschauer so eindringlich an mit der Frage: „Kennst
du ihn, der für dich stirbt, dessen Tod mir das Herz zerreißt ?u Dazu legt sich
die rechte Hand, mit unvergleichlicher Meisterschaft rund, weich und förmlich
bebend gearbeitet, auf die volle Brust, deren Schläge wir zu hören meinen,
während die Linke den Mantel, der zugleich als Schieber über den Kopf gezogen
ist, nach der Seite öffnet, um auf den Sohn zu zeigen (alle Finger dieser Hand
sind schlecht erneuert.) Das Kleid ist am Halse ausgeschnitten und stößt in
unruhigen, fast barocken Zügen und Brüchen auf dem Sockel und den Füßen
auf. Der Mantel ist von beiden Seiten aufgerafft, .die rechte Hälfte zwischen
Unterarm und Leib geklemmt und fällt von da in einem schönen, rückwärts
gerollten Zipfel auf das Knie, die linke Hälfte in einem dicken Bausch über den
Leib gezogen und über den rechten Arm geworfen. Ein dritter Zipfel fällt unter
dem ersten zwischen den Knien herab. Für ihn gibt es keine organische
Erklärung. Denn wie man diesen Pleonasmus auch zu lösen sucht, so kann ein
Mantel dieser Art doch immer nur zwei Zipfel ergeben, der dritte ist dekorative
Zugabe. Der Kopf ist im Verhältnis klein, zur Seite geneigt und von wirren
Haaren umrahmt, das Gesicht ein feines Oval von hoher, verklärter Schönheit,