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Kreis Naumburg.
Wangen und Lippen voller und weicher als sonst, aber jetzt von den tiefsten
Zügen des Schmerzes durchfurcht. Auf der Stirn über den Brauen haben sich
zwei nervöse Runzeln zusammengezogen, zwischen ihnen laufen kleinere bis zur
Querfalte des Nasenbeins. Die typischen Augensäckchen sind von Tränen
geschwollen, die Nasenflügel gebläht und emporgezogen, die Lippen unmerklich
geöffnet und leise geschwungen. Und über dem Ganzen liegt doch noch ein
unsagbarer Hauch von Wehmut und Ergebung. Es ist die Mater Dolorosa,
die mit dem Schwert im Herzen zugleich den Ratschluß der Erlösung im
Sinne hat.
-Johannes stellt den stärksten Widerhall des Leidens, die halt- und
fassungslose Klage dar. Er windet sich förmlich unter Zuckungen. Der Unter-
leib mit dem linken gebrochenen Knie ist gegen das Kreuz gerichtet, die Hände
unter den aufgerafften Mantelenden zum Erlöser emporgerungen. Brust und
Schultern streben aber hinweg, die Augen können den letzten Anblick nicht
ertragen und das Haupt ist heftig seitwärts auf die Schulter geworfen. So reißt
ihn das Gefühl hin und her und bannt ihn doch an die Stelle. Zum Überfluß
tritt er mit dem rechten Fuß auf den Mantelsaum. Die mächtige Stoffmasse vor
dem Leibe, nach oben von der Achsel über die Hand bis zum Zipfel in einer
N Linie bewegt, ist wieder meisterhaft groß und einfach komponiert. Der große
Kopf zeigt die typischen Büschel auf der Stirn, länger und wilder als sonst, und
eine seitliche gelockte Mähne. Das volle, grobe Gesicht mit etwas kurzer Nase
ist krampfhaft zusammen gezogen, um den Ausbruch der Tränen zu bemeistern.
Jeder Zug darin ist die treueste Natur. Aber in der Wirkung täuschte sich der
Künstler entschieden. Der Eindruck ist nahezu spaßhaft und wird zu sehr von
dem geblähten, bebenden Munde beherrscht. Die Brauen bäumen sich wie bei
Laokoon, begleitet von Stirnrunzeln, gewaltsam in die Höhe und schieben auf den
Nasenansatz die schmerzlichen _L förmigen Falten zusammen. Die kleinen über-
schatteten Augen mit großen Sternen blicken trostlos ins Leere. Die unteren
Säckchen sind noch dicker als bei Maria. Die ganze Mundpartie ist vom stärksten
Druck des Stöhnens vorgebläht und aus den Mundwinkeln springen die
geschwellten Muskeln über die Oberlippe, während die Unterlippe mit der letzten
Energie angepreßt ist. Dies Muskelspiel vollzieht sich genau so in einem weichen
Gesichte vor dem Weinen, aber ganz ähnlich auch beim Lachen. Und so sehr
man die feine Naturbeobachtung und die geniale Wiedergabe bewundern wird,
so muß man doch gestehen, daß der Realismus auf dieser Stufe wie die Moment-
photographie keine künstlerische Wirkung mehr ausübt. Das Gesicht ist zudem
gräßlich, sogar mit Tränen bemalt.
Die Engel zu Häupten des Gekreuzigten sind im stärksten Hochrelief
gearbeitet. Sie erinnern an die Engel auf den Kreuzarmen romanischer
Triumphkreuze, welche das Blut der Nägelmale auffangen. Hier schwingen sie
wie Chorknaben mit beiden Händen Rauchfässer, ein neuer und ansprechender
Gedanke in den unübersehbaren Varianten der Passionsgruppe. Die Bewegung
ist wieder so naturwahr und kunstreich wie nur möglich dargestellt. Sie sind
als halbwüchsige Knaben mit dicken Lockenköpfen aufgefaßt. Der Ausdruck ist
heiter und naiv. Man sieht, daß der große Künstler auch das Kinderleben mit
Liebe studiert hat. Über den am Hals geschlitzten Ärmelkleidchen tragen sie
Kreis Naumburg.
Wangen und Lippen voller und weicher als sonst, aber jetzt von den tiefsten
Zügen des Schmerzes durchfurcht. Auf der Stirn über den Brauen haben sich
zwei nervöse Runzeln zusammengezogen, zwischen ihnen laufen kleinere bis zur
Querfalte des Nasenbeins. Die typischen Augensäckchen sind von Tränen
geschwollen, die Nasenflügel gebläht und emporgezogen, die Lippen unmerklich
geöffnet und leise geschwungen. Und über dem Ganzen liegt doch noch ein
unsagbarer Hauch von Wehmut und Ergebung. Es ist die Mater Dolorosa,
die mit dem Schwert im Herzen zugleich den Ratschluß der Erlösung im
Sinne hat.
-Johannes stellt den stärksten Widerhall des Leidens, die halt- und
fassungslose Klage dar. Er windet sich förmlich unter Zuckungen. Der Unter-
leib mit dem linken gebrochenen Knie ist gegen das Kreuz gerichtet, die Hände
unter den aufgerafften Mantelenden zum Erlöser emporgerungen. Brust und
Schultern streben aber hinweg, die Augen können den letzten Anblick nicht
ertragen und das Haupt ist heftig seitwärts auf die Schulter geworfen. So reißt
ihn das Gefühl hin und her und bannt ihn doch an die Stelle. Zum Überfluß
tritt er mit dem rechten Fuß auf den Mantelsaum. Die mächtige Stoffmasse vor
dem Leibe, nach oben von der Achsel über die Hand bis zum Zipfel in einer
N Linie bewegt, ist wieder meisterhaft groß und einfach komponiert. Der große
Kopf zeigt die typischen Büschel auf der Stirn, länger und wilder als sonst, und
eine seitliche gelockte Mähne. Das volle, grobe Gesicht mit etwas kurzer Nase
ist krampfhaft zusammen gezogen, um den Ausbruch der Tränen zu bemeistern.
Jeder Zug darin ist die treueste Natur. Aber in der Wirkung täuschte sich der
Künstler entschieden. Der Eindruck ist nahezu spaßhaft und wird zu sehr von
dem geblähten, bebenden Munde beherrscht. Die Brauen bäumen sich wie bei
Laokoon, begleitet von Stirnrunzeln, gewaltsam in die Höhe und schieben auf den
Nasenansatz die schmerzlichen _L förmigen Falten zusammen. Die kleinen über-
schatteten Augen mit großen Sternen blicken trostlos ins Leere. Die unteren
Säckchen sind noch dicker als bei Maria. Die ganze Mundpartie ist vom stärksten
Druck des Stöhnens vorgebläht und aus den Mundwinkeln springen die
geschwellten Muskeln über die Oberlippe, während die Unterlippe mit der letzten
Energie angepreßt ist. Dies Muskelspiel vollzieht sich genau so in einem weichen
Gesichte vor dem Weinen, aber ganz ähnlich auch beim Lachen. Und so sehr
man die feine Naturbeobachtung und die geniale Wiedergabe bewundern wird,
so muß man doch gestehen, daß der Realismus auf dieser Stufe wie die Moment-
photographie keine künstlerische Wirkung mehr ausübt. Das Gesicht ist zudem
gräßlich, sogar mit Tränen bemalt.
Die Engel zu Häupten des Gekreuzigten sind im stärksten Hochrelief
gearbeitet. Sie erinnern an die Engel auf den Kreuzarmen romanischer
Triumphkreuze, welche das Blut der Nägelmale auffangen. Hier schwingen sie
wie Chorknaben mit beiden Händen Rauchfässer, ein neuer und ansprechender
Gedanke in den unübersehbaren Varianten der Passionsgruppe. Die Bewegung
ist wieder so naturwahr und kunstreich wie nur möglich dargestellt. Sie sind
als halbwüchsige Knaben mit dicken Lockenköpfen aufgefaßt. Der Ausdruck ist
heiter und naiv. Man sieht, daß der große Künstler auch das Kinderleben mit
Liebe studiert hat. Über den am Hals geschlitzten Ärmelkleidchen tragen sie