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Das Zeichnen der Primitiven.

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Kein Wunder, daß das berühmte, weidende Renntier aus dem Keßler Loch bei
Thayingen (Taf. i, Abb. i) zunächst für eine plumpe Fälschung erklärt wurde. Seit jenen
Tagen sind aber Fundstücke in fast unübersehbarer Zahl aus dem Diluvium Mittel- und
Süddeutschlands und besonders aus Südfrankreich und dem Pyrenäengebiete bekannt ge-
worden, deren Echtheit unzweifelhaft feststeht. Zu den ältesten Funden gehören die in
Renntierknochen geritzten Wildpferde aus der Dordogne (Taf. l, Abb. 2 — nach Dawkins),
zu den jüngsten Bär und Pferd aus der Laugerie basse im Vezeretal (Taf. i, Abb. 3 —
geritzter Stein, nach Hauser).

Das Rätsel dieser Funde wird noch größer, wenn man bedenkt, daß die Kunst des
Neolithikums, der neueren Steinzeit, die auf das Paläolithikum folgt, einen ganz anderen
Charakter trägt. Von der bewundernswerten Wiedergabe der Größenverhältnisse, der
Stellungen und Bewegungen des Tier- und Menschenkörpers ist nicht mehr die Rede. Das
geometrische Ornament nimmt einen immer breiteren Raum ein. Menschen- und Tierkörper
zeigen ungefüge Verhältnisse und erstarren zuletzt selbst zur geometrischen Figur.

Den Schlüssel zum Verständnis dieser überraschenden Tatsache lieferte das Studium
der noch heute existierenden primitiven Kulturen und der Kinderzeichnungen.

Es zeigte sich, daß der Kunst der paläolithischen Jäger wichtige Parallelen in der
Kunst der heute lebenden Jägervölker, der Buschmänner, der Australier, der Eskimo gegen-
überstehen. Die neolithische Kunst dagegen hat, dem veränderten Kulturstande ent-
sprechend, mit der Kunst viehzüchtender und ackerbautreibender Völker (Kaffern, Neger,
Indianer usw.) und mit der unbeeinflußten Kinderzeichnung wichtige Züge gemein.

Der Buschmann stellt die verschiedenen Antilopenarten, Strauße, Giraffen, Elefanten,
Nashörner u. dgl., der Eskimo das Renntier, den Wal, den Seehund, der Australier das
Känguruh mit derselben Lebendigkeit dar, wie der Jäger der Steinzeit Moschusochsen,
Wildpferde, Renntiere, Gemsen, Steinböcke usw.

Von der Kunst dieser Jägervölker sollen die wenigen Beispiele, auf die wir uns
des Raumes wegen beschränken müssen, eine Vorstellung geben. Wer sich weiter mit ihr
beschäftigen will, sei auf die am Schlüsse dieses Abschnittes zusammengestellte Literatur
verwiesen.

Mit denkbar einfachsten Mitteln gibt der Eskimo den Beerensammler (Taf. 1, Abb. 5),
die Fußballspieler (Abb. 6), die vortrefflich als Einheit charakterisierte Renntierherde (Abb. 7),
den wehrhaften Renntierbullen, der sich dem Jäger stellt, als Silhouette wieder.

Aus der Buschmannshöhle bei Hermon ist durch Andree die Darstellung eines
Kampfes zwischen Buschmännern und Kaffern bekannt geworden. Daraus geben wir die
Bilder dreier Kaffern, zwei in rasendem Lauf anstürmend, einer verwundet zusammen-
brechend, wieder (Abb. 9).

Die hochentwickelte Jägerkunst der Buschmänner zeigt die Abb. 8, Jäger dar-
stellend, die in Antilopenmasken das Wild beschleichen. Ein Seitenstück dazu aus den
paläolithischen Funden der Dordogne bietet die Abb. 4. Ein Jäger, der sich als Gemsbock
maskiert hat, nähert sich dem Wilde in hüpfender Bewegung, die besonders auf der rechts-
stehenden Zeichnung zum Ausdruck kommt.

Für diese ganze Kunst gilt mit Sicherheit, daß sie an das Jägerleben ge-
bunden ist. Noch heute, im Zeitalter der Präzisionsgewehre und Zielfernrohre, ist das
edle Waidwerk eine Kunst, die Behutsamkeit, angespannte Aufmerksamkeit und Vertraut-
 
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