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Scholz, Hartmut
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Nürnberg: Sebalder Stadtseite — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 10,2: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.52871#0135
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IJ2

PFARRKIRCHE ST. SEBALD


Fig. 89. Volkreicher Kalvarienberg (sog. Kaufmann’sche
Kreuzigung). Berlin, SMB, Gemäldegalerie, Kat. Nr. 1833.
Böhmen oder Österreich, um 1340/50.

269 Gerhard Schmidt, Die Wehrdener Kreuzigung der Sammlung
von Hirsch und die Kölner Glasmalerei, in: Schmidt 2005, S. 137-156
(zuerst veröffentlicht in: Vor Stefan Lochner. Die Kölner Maler von
1300-1430. Ergebnisse der Ausstellung und des Colloquiums, Köln
1977, S. 10-27).
270 Vgl ausführlich Gerhard Schmidt, Zur Kaufmannschen Kreu-
zigung, in: Schmidt 2005, S. 229-258 (Erstveröffentlichung); zuletzt
Kemperdick 2010, S. 68-77.
271 Vgl. Schiller, II, T983, Abb. 330, 381, 389, 393L; hierzu auch
Schmidt 2005, S. 140. Für die Bildidee des von hinten gesehenen bösen
Schächers diente dem Glasmaler ein Vorbild in der Art des dreiteiligen
steirischen Passionsretabels (des Wölfel von Neumarkt?) aus Stift St.
Lambrecht in der Alten Galerie des Universalmuseums Joanneum in
Graz, um 1366, das von Stange, I, 1934, S. 190, Abb. 194, indirekt
von italienischen Darstellungen abgeleitet wurde, vermittelt über äl-

im Wallraf-Richartz-Museum in Köln (um 1340)269 oder die
einem böhmischen oder österreichischen Künstler zugewiesene
sog. Kaufmann’sche Kreuzigung in den Staatlichen Museen zu
Berlin (Fig. 89)270, so finden sich in beiden so weit entfernt von-
einander beheimateten Werken gerade jene zentralen Motive in
mehr oder weniger verwandter Weise wieder, die auch für das
Tucher-Fenster kennzeichnend sind: die Schächer, die im Typus
der frühchristlichen Dreikreuze-Ikonographie zu beiden Sei-
ten Christi, nun allerdings zeittypisch mit qualvoll verrenkten
Gliedern an T-Kreuze gebunden sind271, Longinus aufseiten
der Trauernden mit der Lanze, der mit dem Zeigefinger seiner
freien Hand auf sein blindes Auge weist272, ihm gegenüber der
gute Hauptmann, der in Christus den Sohn Gottes erkennt und
dies durch seine Geste bezeugt273, die Verzweiflungsgeste Ma-
ria Magdalenas, die kniend den Kreuzesstamm umfasst, sowie
Stephaton mit dem Schwamm am Ysopstab und dem Gefäß mit
Essigwasser als Rücken- oder Profilfigur274. Was beiden Bil-
dern fehlt, in der Redaktion des Tucher-Fensters indessen Be-
rücksichtigung fand, ist das alte Motiv der Einholung der Seele
des guten Schächers durch einen Engel, während sich der Seele
des bösen Schächers ein kleiner Teufel bemächtigt. Die Vielzahl
der verfügbaren Einzelmotive und die Möglichkeit ihrer relativ
freien Kombination bieten kaum Spielraum, über den besonde-
ren ikonographischen Entwurf auf die Herkunft der Vorlage
zu schließen.
Ornament: Der durchgehend hinterlegte geometrische Or-
namentteppich (Muster X,52) setzt sich zusammen aus einem
Gitter aus großen roten Quadraten (die diesen ehemals ein-
geschriebene Vierblattzeichnung ist fast restlos verloren) und
an den Schnittpunkten über Eck gesetzten kleinen hellblauen
Quadraten (ebenfalls mit überwiegend verlorener Zeichnung).
Stil, Datierung: Nürnberg, um 1379.
CVMA W 7832-7843, Großdias W 84-95

tere österreichische Werke; vgl. Gottfried Biedermann, in: Gotik in
der Steiermark, Landesausstellung im Stift St. Lambrecht, Graz 1978,
S. 118, Nr. 86.
272 Das Motiv geht auf die Legenda aurea zurück, die davon berich-
tet, dass Longinus gläubig geworden war, »da das Blut Christi, das
an der Lanze herablief, von ungefähr seine Augen berührte, die von
Krankheit oder Alter schwach waren, und ihm alsbald sein klares Ge-
sicht wiedergab« (Benz T979, S. 236). Die hierfür eingeführte, häufig
nachgeahmte Formel der ganzen aufgelegten Hand ist in einem frü-
hen Beispiel in Simone Martinis Orsini-Polyptychon in Antwerpen
um 1333/35 erhalten und so auch in der Kaufmannschen Kreuzigung
umgesetzt (vgl. Schiller, II, T983, S. 168, Abb. 512). Die Nürnberger
Redaktion mit dem Zeigegestus vertritt eine andere Interpretation, die
auch in einem um 1330/40 entstandenen Missale aus der Nachfolge Jean
Pucelles in Oxford vertreten ist und nach Meiss ein monumentales Sie-
neser Vorbild reflektiert (Bodleian Library, Douce 313, fol. 234t; Meiss
1967, I, S. 20, II, Abb. 372, das in späterer Zeit zum geläufigen Typus
avancierte.
27^ Haltung und Harnisch des Hauptmanns und das Schwert anstelle
des häufig dargestellten Schilds erinnern kaum von ungefähr an den
Hauptmann der Kreuzigung auf den gemalten Rückseiten des Verdu-
ner Altars, um 1330, im Stiftsmuseum Klosterneuburg; vgl. Geschichte
der bildenden Kunst in Österreich, II: Gotik, München/London/New
York 2000, S. 25L, Farbabb. 15 (Günther Brücher),und S. 535f.,Nr. 274
(Irma Trattner), mit weiterführender Literatur.
274 Eine vergleichbare Gestalt des Stephaton zeigt in der Nachfolge
des Retabels von Klosterneuburg auch der Kalvarienberg der Samm-
lung Bührle in Zürich sowie der Passionsaltar in Heilsbronn (Kemper-
dick 2010, Abb. 64 und 71).
 
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