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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 4.1899

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Wilser, Ludwig: Germanischer Stil und deutsche Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.6387#0045
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Germanischer Stil und deutsche Kunst.

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H. VOGELER—WORPSWEDE.

was »Stil« ist. Unsere stillose Zeit muss
sich, wenn sie nicht einfach nachahmen will,
auf »naturalistisches« Zierwerk beschränken.
Sollte nicht durch eingehende und verständ-
nissvolle Beschäftigung mit der germanischen
Kunst eine Wiederbelebung des Stilgefühls,
eine neue» stilvolle« und doch nicht knechtisch
nachahmende deutsche Kunst möglich sein?
Vielleicht finden wir in den folgenden Be-
trachtungen über die Baukunst eine Antwort
auf diese Frage. Nicht Entlehnungen und
Vorbilder, »Techniken« oder »Motive« machen
den Stil. Dieser entspringt vielmehr dem
Schönheitssinne, der künstlerischen Ein-
bildungs- und Gestaltungskraft und schliesslich
auch den Bedürfnissen und der umgebenden
Natur eines Volkes. Wahrlich, mit ebenso
gutem Recht, wie einst der Naturforscher
Buffon in seiner Antrittsrede vor der Akademie
aussprach, »le style est l'homme meme«, dürfen
wir die Behauptung aufstellen: »der Stil ist
das Volk selbst«.

Der Noth gehorchend, nicht dem Schön-
heitstrieb, musste der Mensch, um den Un-
bilden der Witterung trotzen und unter
nördlichen Breitegraden ausdauern zu können,

99. VI. 5.

Entwurf zti einem Wand - Tepfich.

seinen nackten Leib in Kleidung hüllen und
ein schützendes Obdach erbauen, wo er sein
Haupt niederlegen konnte. Selbstverständlich
richtete er sich dabei nach den äusseren
Verhältnissen und benutzte das, was ihm die
Natur bot. Der Lappe kleidet sich in Renthier-
felle, der Inder in Baumwolle, der Eskimo
baut seine Hütte aus Schnee, der Neger aus
Palmblättern. Bald aber, wenn der erste
Zweck erreicht ist, macht sich bei höher
stehenden Völkern das Bedürfniss geltend,
Gewand und Behausung zu schmücken. Die
Kleidungsstücke werden aus verschiedenen
Stoffen und Farben zusammengesetzt, gestickt
oder benäht, mit Fransen oder Pelzwerk
verbrämt; die Hütten werden stattlicher und
grösser, als die Noth erfordert, fester gebaut
und durch auffallende Farben, Schnitzwerk
und dergl. verziert. Für unsere Vorfahren
im waldreichen Nordeuropa ergab sich, nach-
dem sie sich über den Naturzustand der
Höhlenbewohner erhoben hatten, als Baustoff
ganz von selbst das leicht zu bearbeitende
und warmhaltende Holz. Die ersten Anfänge
des Holzbaus waren jedenfalls, von leichteren
Reisighütten für den Sommer oder vorüber-
 
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