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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0035
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Heinrich Vogeler— Worpswede.

3'7

Wesen, etwas Grossmasch-
iges, und durch jede Masche
sieht der Himmel durch.
Später erst, als sein Garten
dichter, seine Bäume grös-
ser und reifer und seine
Blumen unzählbar gewor-
den waren, konnte Hein-
rich Vogeler vom Sommer
erzählen; und das war nun
auch sein Sommer. Schon
auf einigen Bildern aus
dem vorigen Jahre sieht
man das Bestreben, jeden
Platz auf der Leinwand aus-
zufüllen, durchzuarbeiten,
Ding neben Ding zu setzen;
— dichte Gebüsche und
schwere Bäume mit dunk-
lem Laubwerk, in das helle
Früchte verflochten sind,
treten an Stelle jener
schlanken mädchenhaften
Bäume, die man auf seinen
Blättern zu sehen gewohnt
ist, und zugleich lässt er
die Radierung, die mit
ihren Schärfen und Härten
seinem neuen Bedürfnis
nicht mehr entspricht, fallen
und wartet, da es zu Bildern
noch mancher Vorbereitung bedarf, auf ein
neues Ausdrucks - Mittel. Das ergibt sich
ihm in der holzschnittartigen Zeichnung,
die er zuerst buchschmuckmässig auf den
Seiten der »Insel« anwandte, ehe er selb-
ständige Blätter schuf, Blätter, die sich mit
nichts vergleichen lassen und die zu den
merkwürdigsten Dokumenten seiner Kunst
gehören. Natürlich war es wieder sein
Garten, welcher mit seiner wachsenden
Fülle den ersten Anstoss zu diesem Fort-
schritt gab. Noch ehe Heinrich Vogeler
die farbige Vielfalt des dichten Laubes
künstlerisch empfand, interessierten ihn die
verschlungenen Wege der Kontur, und
seine fantastischen Vögel in der »Insel«
waren ein Versuch, das Geheimnis der Um-
risse zu erforschen. Und er scheint immer
mehr in den Besitz dieses Geheimnisses ge-

HE1NRICH VOGELER WORPSWEDE.

»Alte Hütte*. Aquarell.

kommen zu sein, denn seine Feder-Zeich-
nungen, weit entfernt davon, es zu verraten,
zeigen eine Sicherheit der Linien, die nur
ein Wissender ihnen geben konnte. Man
erinnere sich irgend einer der in dem früheren
Sonder-Heft*), das diese Zeitschrift Heinrich
Vogeler gewidmet hat, reproduzierten Zeich-
nungen, des dürftigen Buch-Schmuckes, der
Unsicherheit und Unreife der Linien-Führung
und man halte das überraschende Blatt
»Träume« daneben, das eine ganz ausgebildete
Konturen-Sprache mühelos anwendet: man
wird mir zugeben müssen, dass zwischen
damals und jetzt mehr — innere und äussere
— Fortschritte als Jahre liegen. Es ist
natürlich nicht der reifere Garten allein, der
das alles gemacht hat. Die »Insel« ist ge-
gründet worden, die Raum und Anregung

*) April-Heft 1899 der Deutschen Kunst u. Dekoration.
 
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