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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Van de Velde, Henry: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0087
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Das neue Kunst-Prinzip

S- 372 wiedergegeben ist — der Entwurf
stammt von Frau Dr. E. B., zeigt uns,
welches Resultat eine Frau erzielen kann,
die sich von ihrem künstlerischen Sinn und
nicht von ihrem Schneider leiten lässt. Man
könnte wirklich kein Kleid ersinnen, das
sich besser der Person, der Figur und der
ganzen Haltung anpasste. Es ist wahrhaft
von grossem Stil und einer Konstruktion,
die immer schön bleiben wird. Man könnte
glauben, dass diese Toiletten von Damen
zweier Welten getragen werden, und es
existieren in Wirklichkeit zwei Welten. — Die
Gewohnheiten der einen, ihre Wohnungen,
ihre Möbel, Schmuckstücke und Küchen
sind das Gegenteil von denen der anderen;
aber in Hinsicht auf die Toilette liegt beiden
die Schönheit am Herzen. Was sie trennt,
ist nur wenig, aber dies Wenige ist zugleich
unendlich viel! Die Welt, die wir die unsere
nennen, in der wir versuchen, die Schönheit
wieder aufleben zu lassen, hat uns zwei ganz
in Vergessenheit geratene Schöpfungs-
Prinzipien offenbart. Das eine besteht darin,
jedes Ding seinem Zwecke entsprechend auf-
zufassen; es verlangt die Verwerfung alles
dessen, was diesen Zweck verhüllt, und das
klare Hervorheben alles dessen, was dazu
beiträgt, den Zweck zu betonen. Das zweite
Prinzip zeigt, dass jede Materie ihre eigene
Schönheit besitzt, die der Ausdruck ihres
Lebens ist. Jede Materie strebt nach Leben,
und es ist die Aufgabe des Künstlers, dies
schlafende Leben zu erwecken, um so das
gesamte Gut des Lebens und seine Wirkung
auf die Menschen zu vermehren.

Diese Prinzipien beherrschen auch die
Toilette, und beim Betrachten der Illustrationen
muss es auffallen, dass in dem ersten Teil
der Zweck, welchen diese Kleider-Kon-
struktionen erreichen sollen, deutlich zu Tage
tritt: nämlich die Provozierung des Falten-
wurfs. Aber was noch mehr auffällt, ist die
Diatsache, dass den Beschauer beim An-
blick der französischen Toiletten ein Gefühl
der Eiseskälte überkommt. Diese Gewebe
leben nicht; diese Seiden- oder Tuch-Stoffe
sind meistenteils wie Metall oder Leder be-
arbeitet; aber man möge nicht vergessen,
dass wir zur Reproduktion das Beste und

in der Frauen-Tracht. 369

nicht das Mangelhafteste gewählt haben.
Man könnte behaupten, dass dieses Ver-
nunfts-Prinzip sich nicht mit dem Reiz und
der Eleganz verträgt, und sich niemals mit
ihnen vertragen wird. Um dieser Meinung
entgegenzutreten, haben wir den Beispielen,
die sich durch andere Eigenschaften als
Reiz und Eleganz auszeichnen, Pariser
Toiletten gegenübergestellt, die dennoch auch
der Leitung der Vernunft unterworfen sind.
Diese Kontrolle war aber doch nicht so
strenge, um einige willkürliche Einfälle zu
unterdrücken, die jedoch nicht bedeutend
genug sind, um für eine Kritik Veranlassung
zu geben. Wir richten sicherlich alle unsere

PROF. P. BEHRENS. Rück-Ansicht nebenstehenden Kleides,
 
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