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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 16.1905

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Michel, Wilhelm: Materialgemäß
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https://doi.org/10.11588/diglit.8553#0245

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Wilhelm Michel—München: Maferialgemäß.

ADOLF OTTO HOLUB, STUD. ARCH., WIEN.

Entwurf Polstermöbel-Garnitur. I. Preis Mk. 60.

lers zu seinen Stoffen völlig umkehren,
wenn das Material als Herr auftreten und
den Künstler zum demütigen Interpreten
erniedrigen will? Muss sich nicht der
Stein meinem Meissel, das Holz meinem
Schnitzmesser, das Metall meiner Guss-
form anbequemen, wie ich es ihm vor-
schreibe? Wenn die Gesetze der Natur
es mir ermöglichen, dass ich dem Holze
seine »materialgemäße« Starre nehme und
es durch Dämpfe und Schienen in an-
mutig geschweifte Formen nötige, wer
will mir mit Recht verbieten, dass ich
das auch ausführe? Soll ich mir etwa die
Freude an der Kathedralenfassade von
Rheims rauben lassen durch die Erwägung,
dass dieser reiche Spitzenschleier von Wim-
pergen, Fialen, Krabben, Rosetten, Maßwerk
und Skulpturen nicht »materialgemäß« ist?

Ich meine: Hat das schlechte Kunst-
gewerbe des ig. Jahrhunderts das Material
unkünstlerisch vergewaltigt, so haben wir
deshalb noch lange keinen Grund, es un-
künstlerisch zum Tyrannen zu machen.
Die Forderung »Materialgemäß« hat ihren
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Zweck vollkommen erfüllt, wenn sie uns
die Eigenart der Stoffe verstehen gelehrt
und uns in den Stand gesetzt hat, uns
ihrer zu bedienen. Darüber hinaus aber
gebührt dem Material nicht die Rolle des
Alleinherrschers, dem der Künstler nur
zum gehorsamen Exekutiv-Beamten werden
darf. Es gebührt ihm die Rolle des
Dieners, den man verwendet, wie und wo
man ihn braucht, ohne ihm deshalb Dinge
zuzumuten, die er nicht leisten kann und
die er daher schlecht machen muss.

Überall, wo die Forderung »Material-
gemäß« zur Resignation der Gestaltungs-
kraft, zu einem Übermaß an Bescheidenheit
seitens des Künstlers geführt hat, ist sie
falsch verstanden worden. Überall, wo
unter ihrer Flagge Dilettantismus und
Roheit segeln, wird sie frivol angewendet.
Überall, wo sie dem Spieltrieb, der Freude
am Bilden und Formen als Vorwurf ent-
gegentritt, ist sie ein träger Parasit und
eine sinnlose Formel.

Für den Kunstgewerbler ist der Stoff
dasselbe, was das Leben für den Künstler:
 
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