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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 16.1905

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Michel, Wilhelm: Münchner Graphik: Holzschnitt und Lithographie
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https://doi.org/10.11588/diglit.8553#0050

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MARTHA CUNZ—ST. GALLEN.

Original-Holzschnitt: Triftgletscher.

Münchner Graphik: Holzschnitt und Lithographie.

Graphik ist Stil, Graphik ist Apercu,
Lyrik, höchst persönliches Epigramm,
Graphik ist kein Streben nach Naturwahr-
heit, sondern Sehnsucht nach subjektiver
Aussprache. Graphik ist nicht Welt-Ge-
schichte, sondern Tagebuch. Weit draussen
schlägt das unbegreifliche, grosse Leben die
Wellen seiner Farben und Linien, aber auf
dem keuschen starren Holzstock finden sich
nur schematische Abkürzungen und persön-
liche Sublimierungen all dieses Reichtums
zusammen. Graphik ist daher Romantik,
während das Ölbild in den Bereich jener
grossen, klassischen Geistesruhe und Objek-
tivität gehört, denen das Leben unserer Zeit
so feind ist. Graphik ist bewusste Subjek-
tivität, sie ist Erkenntnis-Kritik und trans-
cendentaler Idealismus. Das Ölbild hin-
gegen ist Religion und populäre Metaphysik,
weil es an die endgültige Richtigkeit des
von den Sinnen hergestellten Weltbildes
glaubt. Graphik ist Aphorismus, das Ölbild
ist Welt-Anschauung.

Diese Psychologie der Graphik würde
allein schon genügen, ihre Wiederaufnahme
in allerjüngster Zeit zu erklären. Denn
Aphoristik und Individualismus spielen in
der Signatur des Zeitalters immer noch eine
bedeutende Rolle. Aber selbst wenn man

annimmt, dass dem Kunst-Psychologen bei
der Herstellung solcher Kausal-Zusammen-
hänge ein »vaticinium ex eventu« unter-
läuft, fehlt es nicht an Ursachen äusserer
Art, welche die neu erwachte Vorliebe für
die graphischen Techniken auch mechanisch
abzuleiten im Stande wären.

Die Entdeckung der japanischen Kunst
hat ihre Früchte zunächst auf malerischem
Gebiete, in der Erscheinung des Japanismus,
getragen. Viel später erst begann sie auch
unseren Holzschnitt zu befruchten. Und
heute gelten uns Utamaro, Harunobu, Hiros-
hige als Meister, vor deren Stilgefühl und
koloristischer Kultur wir als staunende Eleven
stehen. Noch im Jahre 1829 durfte Ecker-
mann, als bei Tische ein Lorbeer und eine
japanische Pflanze den Gästen nebeneinander
gezeigt wurden, zu Goethe bemerken: »Dass
von beiden Pflanzen eine verschiedene Stim-
mung ausgehe, dass der Anblick des Lor-
beers heiter, leicht, milde, ruhig mache, die
iapanische Pflanze dagegen barbarisch, melan-
cholisch wirke.« Dieses Diktum erhält da-
durch seine signifikante Bedeutung, dass der
gute Eckermann hier ohne Zweifel seine
Ansicht von der griechischen und der
japanischen Kultur auf die beiden Pflanzen
übertrug. Und Goethe selbst stellte sich in

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