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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Michel, Wilhelm: Das Ideal des Kahlen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0061

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DAS IDEAL DES KAHLEN

Die kahlen Wände der modernen Wohnung,
die nüchternen Formen der modernen
Gebrauchsgegenstände, die Sachlichkeit, die
sich selbst der Kunst bemächtigt hat, die
Linienkargheit der Kleidung, die Nacktheit der
modernen Architektur — alle diese Dinge haben
sich unserem Auge eingeprägt und werden von
uns in gewissem Sinne akzeptiert. Handelte es
sich früher nur um das Ideal der Ornament-
losigkeit, so errichtet sich als das neueste Credo
geradezu der grundsätzliche Verzicht auf künst-
lerische Formung überhaupt. Das Ideal der
technischen Zweckform tritt auf; und zwar nicht
als ein notgedrungener Ausweg aus manchen
Verlegenheiten der Zeit, sondern als ein posi-
tives Bekenntnis, als eine mit Fanatismus ver-
tretene Glaubensformel, die eine positive,
erlösende Neuerung zu verkündigen behauptet.

Es ist nicht meine Absicht, die Zweckmäßig-
keit, vielleicht sogar die Notwendigkeit dieser
Wendung zur ornamental-künstlerischen Askese
zu bestreiten. Sehr wahrscheinlich kann uns
der Durchgang durch eine Periode der reinen

Zweckform nicht erspart bleiben. Und wir
begrüßen alle Bemühungen, die in dieser Rich-
tung gehen; schon deshalb, weil nur ausgewirkte,
realisierte Tendenzen eine wahrhaft neue Lage,
ein echtes Vorwärts herbeiführen.

Aber es wäre doch ein verhängnisvoller Irrtum,
zu verkennen, daß dieser ganzen Wendung
auch ein Nichtmehr-können zugrunde liegt, eine
Verkümmerung wesentlicher Menschheitsfunk-
tionen. Es ist eine der Art nach längst bekannte
Fälschung, von einem sozusagen „freiwilligen"
Übergang zur nackten Zweckform zu reden,
während in Wahrheit hier das Bekenntnis eines
Versagens, das Eingeständnis eines Mangels,
einer Minderung, eines Nichtmehr-Funktionie-
rens bestimmter grundmenschlicher Fähigkeiten
und Triebe vorliegt.

Worauf beruht die Askese, von der wir
sprechen? Sie beruht darauf, daß man aus dem
großen Komplex von Anforderungen, die wir
an die Dinge unseres Lebenskreises stellen, die
Zweckfrage herausschneidet und die zum
einzigen Bestimmungsgrund der Dingformung
 
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