M I L L Y
S T E 6 E R
»KAUERNDE«
POR 7.ELLAN
GESTALTUNG UND SEHEN
VON DR. LÖTZ
an soll seine Zeit und ihren Geist nicht
verneinen, man soll versuchen, sie zu ver-
stehen! Die tieferen Kräfte, die das Geschehen
im Reich der menschlichen Kultur treiben, wollen
aufgespürt, hervorgeholt und gefördert wer-
den. Dieser Wille geht durch all die Reden und
Schriften der führenden Denker der Geschichte
hindurch, es ist der Antrieb für all die Eiferer
gewesen, die sich für den Fortschritt eingesetzt
haben. So wollen auch all die Neuerer unserer
Zeit in Architektur und Formgestaltung, die die
zweckhafte und funktionelle Form propagieren,
der Anwalt der kommenden Zeit sein. Sie reden
von einer neuen Gesellschaftskultur, von einer
neuen Lebensweise, von einem neuen Geist,
der die Menschen durchdringt. Bewußt werden
individuelle Werte vermieden, das Typische und
Zeitgemäße soll hervortreten. Der Rationalismus
der Formgestaltung, der mit diesen Ideen ein-
hergeht, hat sicherlich viel Gesundes, er ver-
drängt das, was überlebt und verbraucht ist.
Wer heute, nach 25 Jahren, Van de Veldes
„Kunstgewerbliche Laienpredigten" liest, wird
erstaunt sein, wie sehr diese Ideen noch heute
Leitmotive unserer Jüngsten sind, ja ihre eigenen
Worte sein könnten. — Damals brachten diese
Ideen den Jugendstil. Rasch aufgegriffen, nicht
verstanden, wurden die Formen in kurzer Zeit
zu Tode gehetzt. Damals wie heute wollte man
einen Stil schaffen. Wie der Jugendstil zu einem
bestimmten Charakter des Dekors, zu einer Art
der Linienführung wurde, so liegt heule' die
Versuchung mindestens ebenso nahe, das Neue
und Besondere heutiger Formgestaltung in der
knappen Art der Linien- u. Flächenkonstruktion
zu sehen. Wie man im Kunstgewerbe aus der
sogenannten expressionistischen Malerei einen
Zackenstil gemacht hat, so kann man aus der
heutigen Architektur einen Rechteckstil machen.
Sindnicht schonhier und da Spuren zuerkennen?
Es ist die große Gefahr, die den ernstesten Be-
strebungen auf dem Gebiet der Formgestaltung
heute immer droht, daß sie ins Modische gezogen
werden. Das ist sehr bezeichnend für unsere Zeit,
die in der Gestaltung so gar keine Impondera-
bilien mehr kennt. Wohl ist das die Gier einer
schnellebigen Zeit nach stets etwas Neuem, aber
es ist auch ein Zeichen dafür, daß ein Bedürfnis
nach Schmuckformen, wenn auch nach mo-
dischen, sich ganz stark geltend macht — wenn
264
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»KAUERNDE«
POR 7.ELLAN
GESTALTUNG UND SEHEN
VON DR. LÖTZ
an soll seine Zeit und ihren Geist nicht
verneinen, man soll versuchen, sie zu ver-
stehen! Die tieferen Kräfte, die das Geschehen
im Reich der menschlichen Kultur treiben, wollen
aufgespürt, hervorgeholt und gefördert wer-
den. Dieser Wille geht durch all die Reden und
Schriften der führenden Denker der Geschichte
hindurch, es ist der Antrieb für all die Eiferer
gewesen, die sich für den Fortschritt eingesetzt
haben. So wollen auch all die Neuerer unserer
Zeit in Architektur und Formgestaltung, die die
zweckhafte und funktionelle Form propagieren,
der Anwalt der kommenden Zeit sein. Sie reden
von einer neuen Gesellschaftskultur, von einer
neuen Lebensweise, von einem neuen Geist,
der die Menschen durchdringt. Bewußt werden
individuelle Werte vermieden, das Typische und
Zeitgemäße soll hervortreten. Der Rationalismus
der Formgestaltung, der mit diesen Ideen ein-
hergeht, hat sicherlich viel Gesundes, er ver-
drängt das, was überlebt und verbraucht ist.
Wer heute, nach 25 Jahren, Van de Veldes
„Kunstgewerbliche Laienpredigten" liest, wird
erstaunt sein, wie sehr diese Ideen noch heute
Leitmotive unserer Jüngsten sind, ja ihre eigenen
Worte sein könnten. — Damals brachten diese
Ideen den Jugendstil. Rasch aufgegriffen, nicht
verstanden, wurden die Formen in kurzer Zeit
zu Tode gehetzt. Damals wie heute wollte man
einen Stil schaffen. Wie der Jugendstil zu einem
bestimmten Charakter des Dekors, zu einer Art
der Linienführung wurde, so liegt heule' die
Versuchung mindestens ebenso nahe, das Neue
und Besondere heutiger Formgestaltung in der
knappen Art der Linien- u. Flächenkonstruktion
zu sehen. Wie man im Kunstgewerbe aus der
sogenannten expressionistischen Malerei einen
Zackenstil gemacht hat, so kann man aus der
heutigen Architektur einen Rechteckstil machen.
Sindnicht schonhier und da Spuren zuerkennen?
Es ist die große Gefahr, die den ernstesten Be-
strebungen auf dem Gebiet der Formgestaltung
heute immer droht, daß sie ins Modische gezogen
werden. Das ist sehr bezeichnend für unsere Zeit,
die in der Gestaltung so gar keine Impondera-
bilien mehr kennt. Wohl ist das die Gier einer
schnellebigen Zeit nach stets etwas Neuem, aber
es ist auch ein Zeichen dafür, daß ein Bedürfnis
nach Schmuckformen, wenn auch nach mo-
dischen, sich ganz stark geltend macht — wenn
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