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GEMÄLDE U. LICHTBILD: Ist das Photo nicht
immer die Fixierung eines Augenblickes,
und schwebt nicht über dem Kunstwerk eine
Vielzahl von Augenblicken? In Freude begon-
nen, in Zweifeln fortgesetzt, von Selbstkritik
unterbrochen, mit neuem Mut vollendet — faßt
so nicht das Kunstwerk rein quantitativ mehr
vom Menschen in sich? Und ist dieses „Mehr
vom Menschen" nicht auch ein Mehr an Welt,
an Raum, an Wirklichkeit? Die sieben Jahre,
die Rembrandt an der „Judenbraut" gemalt
hat, schwellen sie nicht als ein dichtes Gewölk
von Wesenheiten, als ein schwermütiger Reich-
tum aus dem Bild hervor? Die vielen Stunden,
durch die Marees' Schleißheimer Gemälde in
ihrem Werden gingen, heben sie nicht wunder-
bar jede Linie in ihrer Bedeutung, füllen sie
nicht jeden Zug mit Sinn und Tiefe? Ein Haus
ist ein Haus. Aber laßt im einen Fall einen
Menschen davor treten, der dieses Haus zum
erstenmal sieht, und im andern Fall einen
Menschen, den Erinnerungen der Kindheit
damit verbinden, Andenken an Hoffnungen, an
Liebe und Trauer — so wird das Erlebnis
„Haus" zwei Gestalten haben, die in nichts
mit einander zu vergleichen sind. Selbst wo
die Kunst nur Sachverhalte auszusprechen
scheint, sagt sie Dinge hinzu, die in die Ferne
hinausdeuten. Die Polyphonie der Momente,
der Stimmungen und Gefühle, die über das
Werk hingegangen sind — sie ist es, die das
Wort der Kunst bestimmt............ w.M.
GEMÄLDE U. LICHTBILD: Ist das Photo nicht
immer die Fixierung eines Augenblickes,
und schwebt nicht über dem Kunstwerk eine
Vielzahl von Augenblicken? In Freude begon-
nen, in Zweifeln fortgesetzt, von Selbstkritik
unterbrochen, mit neuem Mut vollendet — faßt
so nicht das Kunstwerk rein quantitativ mehr
vom Menschen in sich? Und ist dieses „Mehr
vom Menschen" nicht auch ein Mehr an Welt,
an Raum, an Wirklichkeit? Die sieben Jahre,
die Rembrandt an der „Judenbraut" gemalt
hat, schwellen sie nicht als ein dichtes Gewölk
von Wesenheiten, als ein schwermütiger Reich-
tum aus dem Bild hervor? Die vielen Stunden,
durch die Marees' Schleißheimer Gemälde in
ihrem Werden gingen, heben sie nicht wunder-
bar jede Linie in ihrer Bedeutung, füllen sie
nicht jeden Zug mit Sinn und Tiefe? Ein Haus
ist ein Haus. Aber laßt im einen Fall einen
Menschen davor treten, der dieses Haus zum
erstenmal sieht, und im andern Fall einen
Menschen, den Erinnerungen der Kindheit
damit verbinden, Andenken an Hoffnungen, an
Liebe und Trauer — so wird das Erlebnis
„Haus" zwei Gestalten haben, die in nichts
mit einander zu vergleichen sind. Selbst wo
die Kunst nur Sachverhalte auszusprechen
scheint, sagt sie Dinge hinzu, die in die Ferne
hinausdeuten. Die Polyphonie der Momente,
der Stimmungen und Gefühle, die über das
Werk hingegangen sind — sie ist es, die das
Wort der Kunst bestimmt............ w.M.