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HILDE GROSS-
TÜBINGEN
-DRUCKSTOFF
»ENTWURF«
STIRBT DIE KUNST?
VON WILHELM HAUSENSTEIN
Es kann leider nicht daran gezweifelt werden,
daß die Aufmerksamkeit der Gesamtheit
und der einzelnen für die bildende Kunst, die
Liebe zum Bildwerk nachgelassen hat; es ist
offenkundig, daß die Menschen angefangen
haben, sich vom Bild abzuwenden. Man hat
dafür viele Gründe angegeben: die Hinwen-
dung der Interessen zum Sport, zur Technik,
zum Kino, zum Radio; die zunehmende Ab-
neigung gegen Dinge von geistigem Wesens-
zug (wie er der bildenden Kunst in jedem Falle
innewohnen sollte); die Zunahme des Inter-
esses für Angelegenheiten materieller, wirt-
schaftlicher, körperlicher, mechanischer Natur;
die Verwandlung unseres allgemeinen Lebens-
zustandes aus einem idealischen und eigentlich
kulturhaften Zustand in einen sinnlichen, ner-
vösen und nur mehr zivilisatorischen. Alle diese
Hinweise treffen einen guten Teil der Erschei-
nung, von der hier gesprochen werden soll:
nämlich der abnehmenden „Aktualität" der
bildenden Kunst — des Rückganges der tat-
sächlichen und anerkannten Bedeutung der
bildenden Kunst für das zeitgenössische Leben.
Fügt man die allgemeine, auf alle inneren
(außertechnischen, nichtmateriellen) Lebens-
gebiete gültige Wahrnehmung hinzu, daß unser
Zeitalter überhaupt den Katastrophen einer
weltgeschichtlichen Lebenswende entgegenzu-
gehen scheint, daß wir in einer Epoche stehen,
die dem Abklang der Antike vor den Stürmen
der Völkerwanderung (bei allen selbstverständ-
lichen Unterschieden) ähnlich sieht, so wird
man am Ende auch zugeben müssen, daß die
bildende Kunst Europas in ihren letzten Ent-
wicklungen von einer allgemeinen Bewegung
in der Richtung zur Auflösung aufs natürlichste
mitbetroffen wird. Aber nicht von diesen all-
gemeinen Zusammenhängen soll hier ge-
sprochen werden; sie sind ja nicht unbekannt.
Vielmehr wollen wir uns in dieser Betrachtung
auf das Besondere der bildenden Kunst und des
Verhältnisses oder Unverhältnisses unserer
Zeit zu ihr beschränken.
Man wird ohne weiteres einräumen müssen:
in den alten Zeiten hat es eine derartige Fremd-
HILDE GROSS-
TÜBINGEN
-DRUCKSTOFF
»ENTWURF«
STIRBT DIE KUNST?
VON WILHELM HAUSENSTEIN
Es kann leider nicht daran gezweifelt werden,
daß die Aufmerksamkeit der Gesamtheit
und der einzelnen für die bildende Kunst, die
Liebe zum Bildwerk nachgelassen hat; es ist
offenkundig, daß die Menschen angefangen
haben, sich vom Bild abzuwenden. Man hat
dafür viele Gründe angegeben: die Hinwen-
dung der Interessen zum Sport, zur Technik,
zum Kino, zum Radio; die zunehmende Ab-
neigung gegen Dinge von geistigem Wesens-
zug (wie er der bildenden Kunst in jedem Falle
innewohnen sollte); die Zunahme des Inter-
esses für Angelegenheiten materieller, wirt-
schaftlicher, körperlicher, mechanischer Natur;
die Verwandlung unseres allgemeinen Lebens-
zustandes aus einem idealischen und eigentlich
kulturhaften Zustand in einen sinnlichen, ner-
vösen und nur mehr zivilisatorischen. Alle diese
Hinweise treffen einen guten Teil der Erschei-
nung, von der hier gesprochen werden soll:
nämlich der abnehmenden „Aktualität" der
bildenden Kunst — des Rückganges der tat-
sächlichen und anerkannten Bedeutung der
bildenden Kunst für das zeitgenössische Leben.
Fügt man die allgemeine, auf alle inneren
(außertechnischen, nichtmateriellen) Lebens-
gebiete gültige Wahrnehmung hinzu, daß unser
Zeitalter überhaupt den Katastrophen einer
weltgeschichtlichen Lebenswende entgegenzu-
gehen scheint, daß wir in einer Epoche stehen,
die dem Abklang der Antike vor den Stürmen
der Völkerwanderung (bei allen selbstverständ-
lichen Unterschieden) ähnlich sieht, so wird
man am Ende auch zugeben müssen, daß die
bildende Kunst Europas in ihren letzten Ent-
wicklungen von einer allgemeinen Bewegung
in der Richtung zur Auflösung aufs natürlichste
mitbetroffen wird. Aber nicht von diesen all-
gemeinen Zusammenhängen soll hier ge-
sprochen werden; sie sind ja nicht unbekannt.
Vielmehr wollen wir uns in dieser Betrachtung
auf das Besondere der bildenden Kunst und des
Verhältnisses oder Unverhältnisses unserer
Zeit zu ihr beschränken.
Man wird ohne weiteres einräumen müssen:
in den alten Zeiten hat es eine derartige Fremd-