DOI Artikel:
S., O.: [Kann kritische Haltung sich nur auf persönlich bedingte Maßstäbe berufen?]
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.7201#0270
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KANN KRITISCHE HALTUNG gegenüber
künstlerischem Schaffen nur auf persön-
lich bedingte Maßstäbe sich berufen? Wir neigen
anderer Auffassung zu. Nicht der, daß Kritik
auf allgemein verbindlichen und auch dedu-
zierbaren Begriffssystemen über „Form" be-
ruhen könne. Wie sehr hat das zu schulmeister-
lichem Besserwissen oft verführt. Nein, auch
Kritik, das wichtige Korrelat allen künstle-
rischen Schaffens, wird sich immer auch auf
persönliche Überzeugung berufen müssen wie
die Kunst auf persönliche Eingebung. Doch
aller nur persönlichen Willkür enthoben, son-
dern gebunden durch ein heimliches Gesetz.
Dies wird sich ebenso wenig wie das der Kunst
begrifflich beweisen lassen. Man muß es glau-
ben. Und der wesentliche Kritiker überzeugt
zu diesem Glauben ebenso wie der wesent-
liche Künstler. Zwei autochthone Kreise stehen
sich in Kunst und Kritik gegenüber, im Grunde
von einer gleichen Macht gespeist, die unaus-
sagbar ist. Und wie alle wesentliche Kunst
in der Eroberung der zwingenden Form zur
Selbstentfaltung des schaffenden Individuums
wird, so wird auch alle wesentliche Kritik auf
höheren Kreisen zu solcher Selbstentfaltung,
zwar nicht durch Gestalten aus persönlichem
bis zu überpersönlichem Maße, sondern durch
Rückbeziehung der angelegten Maße auf das
Selbst. Kritik als Selbstkritik ist letzte Aus-
wirkung dieses Drangs einer wahrhaftigen kri-
tischen Haltung. Das zu beurteilende Werk
fordert. Die kritische Haltung muß sich dieser
Forderung zunächst entgegensetzen: darf ich
die Forderung erfüllen? Die Frage greift zu-
rück ins eigene Selbst: was in mir gewährt
dieser Forderung ein Ja, was versagt sich ihr.
Und mit dieser Frage drängt jede wesentliche
Kritik auf Selbsterforschung. Reichen meine
Kräfte aus, sich den im Werk fordernd andrin-
genden zu widersetzen? Ist meine Wahrheit
stärker als die Wahrheit des vor mir stehen-
den Werks? Ein jedes Werk ist Anruf. Eine
jede kritische Haltung ihm gegenüber muß
Antwort sein, Antwort aus tiefer Selbsterfor-
schung, welche die Bösheit allen „Neins" zu
einer Gestaltung aufzuwägen hat, um Anspruch
auf Geltung zu haben...............o. s.
HEINRICH OTTO KREUCHEN - OBERURSEL. PLASTIK »DER KAUERNDE«
KANN KRITISCHE HALTUNG gegenüber
künstlerischem Schaffen nur auf persön-
lich bedingte Maßstäbe sich berufen? Wir neigen
anderer Auffassung zu. Nicht der, daß Kritik
auf allgemein verbindlichen und auch dedu-
zierbaren Begriffssystemen über „Form" be-
ruhen könne. Wie sehr hat das zu schulmeister-
lichem Besserwissen oft verführt. Nein, auch
Kritik, das wichtige Korrelat allen künstle-
rischen Schaffens, wird sich immer auch auf
persönliche Überzeugung berufen müssen wie
die Kunst auf persönliche Eingebung. Doch
aller nur persönlichen Willkür enthoben, son-
dern gebunden durch ein heimliches Gesetz.
Dies wird sich ebenso wenig wie das der Kunst
begrifflich beweisen lassen. Man muß es glau-
ben. Und der wesentliche Kritiker überzeugt
zu diesem Glauben ebenso wie der wesent-
liche Künstler. Zwei autochthone Kreise stehen
sich in Kunst und Kritik gegenüber, im Grunde
von einer gleichen Macht gespeist, die unaus-
sagbar ist. Und wie alle wesentliche Kunst
in der Eroberung der zwingenden Form zur
Selbstentfaltung des schaffenden Individuums
wird, so wird auch alle wesentliche Kritik auf
höheren Kreisen zu solcher Selbstentfaltung,
zwar nicht durch Gestalten aus persönlichem
bis zu überpersönlichem Maße, sondern durch
Rückbeziehung der angelegten Maße auf das
Selbst. Kritik als Selbstkritik ist letzte Aus-
wirkung dieses Drangs einer wahrhaftigen kri-
tischen Haltung. Das zu beurteilende Werk
fordert. Die kritische Haltung muß sich dieser
Forderung zunächst entgegensetzen: darf ich
die Forderung erfüllen? Die Frage greift zu-
rück ins eigene Selbst: was in mir gewährt
dieser Forderung ein Ja, was versagt sich ihr.
Und mit dieser Frage drängt jede wesentliche
Kritik auf Selbsterforschung. Reichen meine
Kräfte aus, sich den im Werk fordernd andrin-
genden zu widersetzen? Ist meine Wahrheit
stärker als die Wahrheit des vor mir stehen-
den Werks? Ein jedes Werk ist Anruf. Eine
jede kritische Haltung ihm gegenüber muß
Antwort sein, Antwort aus tiefer Selbsterfor-
schung, welche die Bösheit allen „Neins" zu
einer Gestaltung aufzuwägen hat, um Anspruch
auf Geltung zu haben...............o. s.
HEINRICH OTTO KREUCHEN - OBERURSEL. PLASTIK »DER KAUERNDE«