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ν. Dobschütz, Christusbilder.
wissenschaftliche Kritik, leicht bereit die wirkliche Bedeutung
einer Legende auf Grund ihrer litterarischen Bezeugung zu über-
schätzen, hat, wenn sie die Abgarlegende zum Ausgangspunkte
aller Bilderlegenden machte, hier ebenso geirrt, wie die alte
Legende selbst, welche wie einst die Palladien so weiterhin die
selbständigen Achiropoii'ten sei es zu identifizieren, sei es will-
kürlich genealogisch zu verknüpfen suchte. Liesse sich erweisen,
dass der Gedanke des wunderbar entstandenen Christusbildes im
Rahmen der Veronicalegende bis in das 6. oder 7. Jahrhundert
zurückreicht, so würde man unbedingt erklären müssen, dass hier
die gleiche Stimmung in zwei im ganzen ähnlichen Legenden
den gleichen Wechsel hervorgerufen hätte.
Nun aber hat sich uns im Verlaufe der Untersuchung er-
wiesen, dass die neueren Datierungen grossenteils falsch sind.
Wie es ein Irrtum war, das Wunderbild der edessenischen Le-
gende ins vierte Jahrhundert hinaufzurücken, so war es auch
falsch, an die Spitze der Entwicklung der Veronicalegende im
6. Jahrhundert eine Form zu stellen, welche das Wunderbild
kennt. Wenn anders es richtig ist, dass Mors Pilati nicht an den
Anfang der Zeugenreihe gehört,1) so haben wir für den Gedanken
des Wunderbildes innerhalb der Veronicalegende keine ältere
Quelle als jene lateinische Prosaerzählung des 11. Jahrhunderts.
Und wenn deren Verfasser der selbständig schöpferische Geist
war,. als den wie ihn oben zu erweisen suchten,2) so muss man
behaupten, dass er diesen Gedanken zuerst in die Veronicalegende
einführte. Dann aber erhebt sich die Frage: woher hat dieser
Mann, der vielleicht in Oberdeutschland heimisch war, diesen
Gedanken geschöpft?
Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass auch damals noch
der Glaube an wunderbare Entstehung von Christusbildern gleich-
sam in der Luft lag und sich von selbst die Form schuf, die
wir hier finden. Sahen wir doch, dass es auch bei den h. Leichen-
tüchern unsicher ist, ob der Gedanke an wunderbar darauf durch
Abdruck des Leichnams entstandene Bilder bis in jene ältere
Periode des Achiroporitenglaubens zurückreicht, oder erst im
12. Jahrhundert entstanden ist.3) Aber es eröffnet sich doch die
Möglichkeit, dass an diesem Punkte wirklich eine litterarische
]) s. S. 237 f.
2) s. S. 230 f.
3) s. S. 79.
ν. Dobschütz, Christusbilder.
wissenschaftliche Kritik, leicht bereit die wirkliche Bedeutung
einer Legende auf Grund ihrer litterarischen Bezeugung zu über-
schätzen, hat, wenn sie die Abgarlegende zum Ausgangspunkte
aller Bilderlegenden machte, hier ebenso geirrt, wie die alte
Legende selbst, welche wie einst die Palladien so weiterhin die
selbständigen Achiropoii'ten sei es zu identifizieren, sei es will-
kürlich genealogisch zu verknüpfen suchte. Liesse sich erweisen,
dass der Gedanke des wunderbar entstandenen Christusbildes im
Rahmen der Veronicalegende bis in das 6. oder 7. Jahrhundert
zurückreicht, so würde man unbedingt erklären müssen, dass hier
die gleiche Stimmung in zwei im ganzen ähnlichen Legenden
den gleichen Wechsel hervorgerufen hätte.
Nun aber hat sich uns im Verlaufe der Untersuchung er-
wiesen, dass die neueren Datierungen grossenteils falsch sind.
Wie es ein Irrtum war, das Wunderbild der edessenischen Le-
gende ins vierte Jahrhundert hinaufzurücken, so war es auch
falsch, an die Spitze der Entwicklung der Veronicalegende im
6. Jahrhundert eine Form zu stellen, welche das Wunderbild
kennt. Wenn anders es richtig ist, dass Mors Pilati nicht an den
Anfang der Zeugenreihe gehört,1) so haben wir für den Gedanken
des Wunderbildes innerhalb der Veronicalegende keine ältere
Quelle als jene lateinische Prosaerzählung des 11. Jahrhunderts.
Und wenn deren Verfasser der selbständig schöpferische Geist
war,. als den wie ihn oben zu erweisen suchten,2) so muss man
behaupten, dass er diesen Gedanken zuerst in die Veronicalegende
einführte. Dann aber erhebt sich die Frage: woher hat dieser
Mann, der vielleicht in Oberdeutschland heimisch war, diesen
Gedanken geschöpft?
Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass auch damals noch
der Glaube an wunderbare Entstehung von Christusbildern gleich-
sam in der Luft lag und sich von selbst die Form schuf, die
wir hier finden. Sahen wir doch, dass es auch bei den h. Leichen-
tüchern unsicher ist, ob der Gedanke an wunderbar darauf durch
Abdruck des Leichnams entstandene Bilder bis in jene ältere
Periode des Achiroporitenglaubens zurückreicht, oder erst im
12. Jahrhundert entstanden ist.3) Aber es eröffnet sich doch die
Möglichkeit, dass an diesem Punkte wirklich eine litterarische
]) s. S. 237 f.
2) s. S. 230 f.
3) s. S. 79.